Ich war Bartimäus
Faith Impulse
Pastor, Kinder- und Jugendwerk
Zum Bibeltext Markus 10,46-52
Ich war Bartimäus
Liebe Schwestern und Brüder! Vor knapp 20 Jahren war ich Bartimäus. Ich war natürlich nicht wirklich der blinde Sohn des Timäus, der vor rund 2000 Jahren in Jericho gelebt hat. Aber ich durfte in seine Rolle schlüpfen und etwas von dem nachempfinden, was der echte Bartimäus vielleicht tatsächlich empfunden hat.
Wie es dazu kam? Auf der Edtbauernalm in Hinterstoder fand ein Jugendtreffen unserer evangelisch-methodistischen Zentralkonferenz für Mittel- und Südeuropa statt. Jugendliche aus den verschiedenen Ländern kamen zusammen, um Gemeinschaft zu haben – zu singen, zu beten, zu spielen und Sport zu machen. Während dieses Jugendtreffens leitete Pastorin Anke Neuenfeldt ein sogenanntes Bibliodrama zum Abschnitt, den wir heute aus dem Markus-Evangelium gehört haben. Bibliodrama ist eine Methode, einen Bibeltext mit Hilfe von schauspielerischen Elementen näher kennen zu lernen. Indem verschiedene Personen in Rollen schlüpfen und die biblische Geschichte nachspielen, wird diese für alle im Raum lebendiger. Ich durfte in die Rolle des Bartimäus schlüpfen. Drei Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, möchte ich heute mit euch teilen, bevor ich im Schlussteil der Predigt der Frage nachgehe: „Was können wir uns heute aus der Geschichte von Bartimäus für unser Leben mitnehmen?“
Er schrie noch viel lauter
Während wir die Geschichte von Bartimäus nachspielten, war einer der stärksten Momente folgender: Ich saß als Bartimäus – meinem Mantel über die Schultern gehängt – am Boden. Um die Blindheit nachzuempfinden hatte ich die Augen geschlossen. Ich rief meinen Text: „Jesus, du Sohn Davids! Hab Erbarmen mit mir!“ Ich sagte den Satz nicht nur laut, wie ich es jetzt tue, sondern rief ihn wirklich. Gleichzeitig fuhren mich Stimmen um mich herum an: „Sei still! Sei still! Sei still!“ Worauf ich noch lauter schrie: „Sohn Davids! Hab Erbarmen mit mir!“
Es war unglaublich anstrengend. Einerseits die anderen Stimmen zu überschreien; andererseits nicht aufzugeben, wo eine Vielzahl an Menschen mich doch offenkundig zum Schweigen bringen wollte.
An diese Erfahrung anschließend frage ich mich: Wie anstrengend, ja lähmend muss es für Menschen sein, die einen ersten Schritt machen, um ihre Situation zu verbessern, dann aber die volle Wucht der Ablehnung zu spüren bekommen? Wie viele Menschen geben bei diesem Gegenwind ihre Bemühungen auf? Weil sie darauf nicht vorbereitet waren; weil sie sich Unterstützung statt Anfeindung erhofft hatten; weil ihre Kraft einfach nicht reicht?
Ich frage mich weiters: Schreie auch ich manchmal: „Sei still!“? Gehöre ich auch da und dort zu denen, die andere zurück auf ihren – in meinen Augen – rechtmäßigen Platz verweisen wollen? Ersticke auch ich Hoffnungen meiner Mitmenschen im Keim, weil mir ihre Bedürfnisse lästig sind?
Den Mantel zurücklassen
Ein zweites eindrucksvolles Erlebnis als Bartimäus war es, als Jesu Stimme plötzlich durch das Stimmengewirr zu hören war: „Ruft ihn her!“ Einen Moment war es still. Dann sprachen mir dieselben Stimmen, die mich gerade eben noch zum Schweigen bringen wollten, ermunternde Worte zu: „Nur Mut! Steh auf, er ruft dich!“
Mit einer kräftigen Bewegung meiner Schultern und Arme warf ich meinen Mantel ab und sprang auf. In diesem Moment spürte ich plötzlich eine Befreiung. Ich war frei von den Stimmen, die mich gerade eben noch zurückhielten: Frei von den inneren Stimmen, die mir vorher gesagt hatten: Hör auf zu schreien; das schaffst du sowieso nicht, die Anderen zu übertönen; das kann doch nicht gelingen. Frei auch von den „Sei still!“-Rufen, die nach Jesu Worten verstummt waren.
Und jetzt war ich auch noch frei von dem Mantel. Dieser Mantel war bisher mein einziger Verbündeter. In den kalten Nächten spendete er mir zumindest ein wenig Wärme. Tagsüber diente er mir als Arbeitsplatz: Auf ihn warfen vorbeigehende Menschen mitleidig ein paar Münzen. Und gleichzeitig erinnerte mich dieser Mantel – sein Geruch – seine Löcher – in jedem Moment daran, dass ich ein blinder Bettler war und wohl immer sein würde. Dieser Mantel war es, der mir meinen Platz in der Gesellschaft immer und immer wieder schmerzlich vor meine blinden Augen führte. Und plötzlich war ich frei von diesem wunderbaren und hassenswerten Mantel.
An diese Erfahrung anschließend frage ich mich: Reagiere ich so entschlossen, wenn ich Jesu Stimme im Stimmengewirr dieser Welt höre? Werfe ich meinen Mantel ab und springe auf? Lasse ich zurück, was mich auf meinen angestammten Platz verweist und komme zu Jesus – im festen Vertrauen: Was Jesus für mich tun wird, kann mein Leben zum Guten verändern?
Der neue Weg
Und dann stehe ich also als Bartimäus vor Jesus. Die Augen immer noch geschlossen. Und Jesus fragt: „Was willst du? Was soll ich für dich tun?“
„Rabbuni, dass ich sehen kann!“, antworte ich; worauf Jesus sagt: „Geh nur, dein Glaube hat dich gerettet.“
Ich öffne die Augen und sehe. Ist das zu glauben? Laut Jesus hat nicht er mich geheilt, sondern mein Glaube, mein Vertrauen hat mich geheilt.
Mir ist in diesem Moment aber eigentlich egal, wie es jetzt genau zugegangen ist. Ich freu mich einfach. Ich freue mich zu sehen, dass die Sonne draußen scheint. Ich freue mich zu sehen, wer vor mir und wer um mich herum steht. Natürlich habe ich die Freundinnen und Freunde auch schon vorher an ihren Stimmen erkannt. Dennoch ist es etwas ganz anderes jetzt auch ihre Gesichter zu sehen. Wir lächeln einander zu und sind wohl alle ein bisschen überrascht, wie sehr wir in die Rollen der biblischen Geschichte geschlüpft sind.
An diese Erfahrung anschließend frage ich mich: Könnte ich sofort antworten, wenn Jesus mich fragt: „Was willst du? Was soll ich für dich tun?“ Gibt es eine Blindheit in meinem Leben, von der Jesus mich heilen möchte? Hab ich das Vertrauen, dass das möglich ist? Äußere ich im entscheidenden Moment meine Bitte?
Weiters frage ich mich: Spreche ich Jesus als Rabbuni, also als Lehrer an? Oder anders gefragt: Erwarte ich, dass ich von Jesus alles lernen kann, was auf meinem weiteren Weg wichtig sein wird?
Nur Mut! Steh auf, Jesus ruft dich!
Liebe Schwestern und Brüder!
Ich habe euch von meine Erfahrungen erzählt, die ich im Bibliodrama gemacht habe und ich habe einige Fragen aufgeworfen, die sich für mich bis heute aus diesen Erfahrungen ergeben. Zum Schluss der Predigt kommend möchte ich fragen: Was können wir, die wir am heutigen Sonntag den Abschnitt aus Markus 10 gehört haben, uns also mit in unseren Alltag nehmen?
„Nur Mut! Steh auf, Jesus ruft dich!“
Das ist eines der biblischen Worte, die wir gar nicht oft genug lesen und hören können; ein Wort, das Kraft hat unser Leben zum Guten zu verändern; ein Wort, das ich mir ins Herz schreiben möchte, damit es mich stets begleitet.
Und dabei ist es nicht einmal ein Wort Jesu. Nein, es ist ein Wort der Ermutigung, das Menschen sprechen, die gerade eben noch „Sei still!“ gerufen haben. Ja, so eine Veränderung ist möglich, wo Menschen das Wort Jesu hören!
„Nur Mut! Steh auf, Jesus ruft dich!“
Dieses Wort und die Geschichte aus der es stammt erinnert mich an drei wesentliche Punkte, die ich mir immer wieder vor meine manchmal blinden Augen führen möchte:
- Es ist zunächst einmal egal, wie ich von Jesus erfahren habe und woher dieses Vertrauen, das ich in mir spüre, kommt. Wichtig ist, dass dieses Vertrauen mich dazu bringt, alles auf eine Karte zu setzen und meine Stimme zu erheben. Ich will meine Hoffnung auf Jesu Hilfe laut aussprechen, ja wenn nötig hinausschreien; anstatt zu denen zu gehören, die andere mit ihren „Sei still!“-Rufen auf ihren Platz verweisen. Die Welt braucht solches Vertrauen und darf meine Hoffnung ruhig hören!
- „Nur Mut! Steh auf, Jesus ruft dich!“ erinnert mich weiters daran, dass manchmal eine wichtige Änderung in meinem Leben nur möglich ist, wenn ich bereit bin, etwas zurück zu lassen. Solange ich auf Jesu Ruf hin nicht aufspringe und den Mantel von den Schultern fallen lasse; solange ich das nicht zurücklasse, was mir Sicherheit gibt, aber mich zugleich an meinem gewohnten Platz festhält, bin ich nicht bereit, wofür Jesus mir die Augen öffnen will.
- „Nur Mut! Steh auf, Jesus ruft dich!“ ermutigt mich schließlich, von Jesus alles zu erwarten; ehrlich meine Bitten auszusprechen; und Jesus als den Lehrer anzuerkennen, der mich immer mehr verstehen lassen wird, was die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe von Gottes Liebe bedeutet.
Und damit das Ende nicht zu pathetisch wird, noch ein Hinweis: Die Geschichte von Bartimäus ist im Evangelium nach Markus die letzte, bevor Jesus nach Jerusalem zieht und damit seinem Leiden und Sterben entgegengeht. In den letzten Wochen haben wir in den Evangeliums-Lesungen gehört, wie Jesus versucht hat, die Jüngerinnen und Jünger auf seinen Weg vorzubereiten. Die streiten sich aber lieber, wer besonders wichtig ist und wollen sich eine gute Zukunft sichern. Immer noch sind sie völlig blind für das, was Jesus ihnen eigentlich zu zeigen versucht.
Ich erwähne das, um klarzumachen: Ich bin mir bei meinen frommen Träumen durchaus bewusst: Die nächste Blindheit von der Jesus mich befreien wird, ist vermutlich nicht die letzte. Aber gerade im Wissen, dass ich scheitern werde – so wie alle Jüngerinnen und Jünger – immer und immer wieder – nehme ich mir diese Ermutigung heute mit. Egal in welcher Lebenslage: Dir und mir gilt das Wort: „Nur Mut! Steh auf, Jesus ruft dich!“