Der kommende Friedensherrscher
Faith Impulse
Pastor, Superintendent
Der kommende Friedensherrscher
Predigtmeditation zu Jesaja 11,10. Die Bibeltexte sind der Basisbibel entnommen.
Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Spross hervor.
Ein Trieb aus seiner Wurzel bringt neue Frucht.
Ja, so etwas habe ich tatsächlich schon öfter gesehen. In einem Wald hat man einen Baum gefällt. Übrig geblieben ist nur der Stumpf. Vielleicht einen halben Meter hoch ragt er noch aus dem Boden. Die Wurzeln reichen dennoch tief ins Erdreich.
Der Baum selbst ist weg. Und doch nicht ganz. Denn aus dem Wurzelstock wachsen neue Triebe. Der Baum ist nicht tot – im Gegenteil, von der Wurzel her hat er noch Kraft.
Was für ein schönes hoffnungsvolles Bild, denke ich mir.
Doch dann wird mir auch bewusst: Es ist nicht nur ein Bild der Hoffnung. Zuallererst ist es das Bild einer Katastrophe. Denn der große, mächtige Baum – er ist nicht mehr da. Die Krone, die über Jahrzehnte gewachsen ist, Schatten gespendet hat, die unzähligen Vögeln und anderen Tieren Nahrung und ein Zuhause gegeben hat, sie ist gefallen.
Das Holz mag woanders Verwendung gefunden haben. Für den Wald und seine Tiere ist der Baum jedoch unwiederbringlich verloren.
Hoffnung auf einen Neuanfang – nach der Katastrophe. Das ist es, wovon der Prophet Jesaja spricht. Gefallen ist das große Königreich Davids. Zerstört die Hauptstadt Jerusalem. Verschleppt sind Krone und Stamm. Was für ein gewaltiger Verlust! Die Geschichte Gottes mit seinem Volk – sie scheint zu Ende. Was bleibt, ist nicht mehr als Wurzel und Stumpf.
Das sieht Jesaja. Oder vielmehr: Das sieht Jesaja voraus. Denn folgt man der Chronologie des Jesajabuches, dann spricht er dieses Wort, noch bevor die Katastrophe da ist. Die Zerstörung Jerusalems, vom babylonischen König Nebukadnezzar im Jahr 587 vor Christus vollendet, hat noch nicht stattgefunden. Dennoch sprich Jesaja von ihr, als wäre sie geschehen. Unausweichlich scheint sie ihm, angesichts der Bosheit, der Überheblichkeit, der Gottlosigkeit seiner Zeit.
„Israel kehrte nicht um zu Gott, obwohl er es so hart geschlagen hatte. Sie fragten nicht nach dem Herrn Zebaot. Da schnitt der Herr Israel Kopf und Schwanz ab. Er stutzte Ast und Stumpf an einem einzigen Tag.“ (Jesaja 10,12f)
Unausweichlich, so sagt Jesaja, ist der Niedergang des alten Königreichs. Die Krone des Baums trägt keine Frucht. So schneidet man sie weg.
Jesaja aber sieht nicht nur den fruchtlosen Stamm. Er sieht auch die Wurzel, die ihn trägt. Und diese Wurzel hat noch Kraft. Auch wenn der Baum gefällt ist, wird die Wurzel doch neues Leben hervorbringen. Ein Spross schießt aus dem Stamm hervor. Ein Trieb aus seiner Wurzel bringt neue Frucht.
Ein neuer König kommt – nach dem Fall.
Auf ihm ruht der Geist des Herrn: Der schenkt ihm Weisheit und Einsicht, Rat und Stärke, Erkenntnis und Ehrfurcht vor dem Herrn. Ja, er hat Freude daran, den Herrn zu fürchten. Er urteilt nicht nach dem Augenschein und entscheidet nicht nach dem Hörensagen. Er ist gerecht und sorgt dafür, dass die Schwachen zu ihrem Recht kommen. Er ist aufrichtig und trifft Entscheidungen zugunsten der Armen im Land.
Ein König kommt, der da regiert im Geiste des Herrn. Ein König voller Weisheit und Einsicht. Klugheit ist seine Stärke. Und er hat Ehrfurcht vor Gott, dem Schöpfer der Welt.
Die Herrschaft, die er bringt, ist gerecht. Weil er dafür sorgt, dass die Schwachen zu ihrem Recht kommen. Nicht die, die ohnehin stark sind, die auf der Sonnenseite des Lebens sind, sollen es sich richten können.
Sondern Gerechtigkeit soll denen widerfahren, die nicht für sich selbst sorgen können; die auf der Schattenseite des Lebens gelandet sind; denen man übel mitgespielt hat. Ihnen gilt seine Zuwendung zuerst, und sein Schutz.
Sein Wort trifft den Gewalttäter wie ein Stock.
Er tötet den Frevler mit einem Hauch,
der über seine Lippen kommt.
Wer anderen Gewalt tut, wird von diesem König in die Schranken gewiesen. Ja, den Frevler tötet er mit einem Hauch, der über seine Lippen kommt. Doch wer sind das, die Frevler?
Frevler sind Menschen, die Gottes Gebote missachten und ihre eigenen Interessen gewaltsam durchsetzen. Ein Frevler – bin ich das womöglich auch?
Gerechtigkeit begleitet ihn wie der Gürtel um seine Hüften,
Treue wie ein Band um seinen Leib.
Die Gerechtigkeit hält alles zusammen. Ohne sie steht man rasch nackt da. Doch was ist Gerechtigkeit?
„Will man alles, was die Bibel über Gott und Mensch zu sagen hat, mit einem einzigen Wort zusammenfassen, so kommt allein der Begriff der Gerechtigkeit in Frage“, so formuliert es der deutsche Theologe Frank Crüsemann (*1938). Und weiter: „Die Eigenart des alttestamentlichen Gerechtigkeitsverständnisses kommt in dem hebräischen Wort zedaqa zum Ausdruck. Ihm ist ein dynamischer und relationaler Charakter eigen. (Denn) zedaqa meint ein Tun, … das in Unordnung Geratenes und somit Falsches wieder richtig stellt, also in diesem Sinne Gerechtigkeit bewirkt. Kriterium dafür, was falsch und richtig ist, ist die Frage, ob es der Gemeinschaft dient oder ihr schadet. Gerechtigkeit erweist sich also in dem Tun, das in Treue zur Gemeinschaft geschieht und ihr förderlich ist, kurz: Gerechtigkeit besteht in lebendiger Gemeinschaftstreue."
In Gerechtigkeit wird die Welt von diesem neuen König regiert, d.h. sein Wille geschieht, wo man füreinander da ist. Und in seiner Macht bringt er die aus dem Gleichgewicht geratene Welt wieder ins Lot. Menschen dienen einander, sie sind füreinander da. Der Starke hilft dem Schwachen, und wer Überfluss hat, teilt ihn mit dem, der im Mangel lebt. Wer etwas verspricht, bleibt seinem Wort treu. Und wer mit einem anderen eine Angelegenheit zu regeln hat, bleibt auch im Konflikt rechtschaffen und treu.
Dann ist der Wolf beim Lamm zu Gast,
und der Leopard liegt neben dem Böckchen.
Ein Kalb und ein junger Löwe grasen miteinander,
ein kleiner Junge hütet sie.
Kuh und Bär weiden zusammen,
ihre Jungen liegen nebeneinander.
Der Löwe frisst Stroh wie das Rind.
Ein Säugling spielt am Loch der Natter.
Ein kleines Kind streckt seine Hand aus
über der Höhle der Giftschlange.
Ach was, das geht jetzt aber wirklich zu weit!
Dass Gerechtigkeit für Frieden sorgt, dem stimme ich gerne zu. Ebenso, dass Solidarität für das Funktionieren einer Gesellschaft nötig ist.
Doch dass wegen eines neuen Königs der Wolf zum Vegetarier wird, der Löwe Stroh frisst, und die Natter ihren Giftzahn verliert, das ist nun doch wirklich eine Utopie. Das klingt doch wie im Paradies!
Ja, wie im Paradies, zu Anbeginn, als Gott Himmel und Erde geschaffen hatte. Da ernährten sich Wolf und Löwe von Grünzeug. Und auch der Mensch aß in Gottes Schöpfung vegan. So heißt es doch im ersten Kapitel der Bibel:
"Gott sprach: »Als Nahrung gebe ich euch (den Menschen) alle Pflanzen auf der Erde, die Samen hervorbringen – dazu alle Bäume mit Früchten und Samen darin. Die grünen Pflanzen sollen Futter für die Tiere sein: für die Tiere auf der Erde, die Vögel am Himmel und alle Kriechtiere auf dem Boden.« Und so geschah es. Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut." (1. Mose 1,29f)
Geht es Jesaja um mehr als um eine neue politische Ordnung? Ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit auf dieser Welt? Ein Neuanfang, der dem Schöpfungswillen Gottes gerecht wird. Ein Neuanfang - so wie Gott selbst es will.
Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen
auf meinem ganzen heiligen Berg.
Denn das Land ist erfüllt von Erkenntnis des Herrn,
so wie das Meer voll Wasser ist.
Diese neue Herrschaft Gottes, sie mag eine Utopie sein; ein Ort, den es gar nicht gibt.
Doch lassen wir uns nicht ständig von Utopien leiten, von Hoffnungen, Erwartungen, Idealen, die es so eigentlich gar nicht gibt?
Von der Utopie – oder vielmehr, dem Wahn, dass da einer reich werden könnte, ohne dass es einen gibt, der dabei verarmt?
Von der Utopie – oder vielmehr dem Wahn, dass wir unbegrenzt konsumieren könnten, ohne dass wir unsere Schöpfung dabei zerstören?
Von der Utopie – oder vielmehr dem Wahn, dass ich das Ich über das Wir stellen kann, ohne dass wir dabei beide einsam werden?
„Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg. Denn das Land ist erfüllt von Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer voll Wasser ist.“
Dieses Friedensreich mag eine Utopie sein, doch es ist kein Wahn, sondern etwas, auf das es sich zu hoffen lohnt, dem es nachzustreben gilt, für das man getrost kämpfen mag, auch wenn man es niemals aus eigener Kraft erreicht.
Denn was gibt uns Hoffnung, gibt Orientierung, gibt Halt, in unserer Wahn-Sinnigen Zeit?
Zu der Zeit steht der Spross aus der Wurzel Isais
als Feldzeichen für die Völker da.
Nach ihm richten sie sich.
Der Ort, an dem er wohnt, strahlt Herrlichkeit aus!
Der Spross aus der Wurzel Isais – Jesus – als Feldzeichen: ein Orientierungspunkt, ein Wegweiser, für alle Völker dieser Welt.
Nach ihm richten sie sich – an seinem Vorbild richten sie sich aus.
Und du? Wonach richtest du dich?
Quellen
Alle Texte sind der Basisbibel entnommen. (C) Deutsche Bibelgesellschaft.
Das Zitat von Frank Crüsemann ist von Bibelwissenschaft.de übernommen und stammt aus: Crüsemann, Frank, Rettung und Selbstverantwortung, in: Crüsemann, Frank (Hg.), Maßstab: Tora. Israels Weisung für christliche Ethik, Gütersloh 2003, 49-56.
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