Europa. Ein Traum?
Faith Impulse
emer. Bischof | Evang. A.B.
Anlass
Die im Ökumenischen Rat der Kirchen Österreichs verbundenen Kirchen haben im Jahr 2003 gemeinsam das „Sozialwort der Kirchen“ verabschiedet und damit Stellung zu einer Vielzahl von gesellschaftlich relevanten Themen genommen. Alle damals im ÖRKÖ vertretenen Kirchen katholischer, protestantischer und orthodoxer Traditionen haben es gemeinsam erarbeitet und unterzeichnet.
Im Jahr 2023 will der ÖRKÖ mit dem Projekt Sozialwort 20+ diesen Dialog wieder fördern und hat deshalb zu einer Predigtreihe in verschiedenen Kirchen aufgerufen. In diesem Rahmen war der emeritierte Bischof der Evangelisch-lutherischen Kirche, Dr. Michael Bünker, eingeladen, in der EmK Wien-Fünfhaus zum Thema „Europa“ sprechen. Michael Bünker hat als lutherischer Bischof, Generalsekretär der GEKE und Mitwirkender an der 2. Ökumenischen Versammlung in Graz den Dialog der Kirchen in Europa wesentlich mit gestaltet hat.
Predigttext
Apostelgeschichte 16,9-15
In der Nacht hatte Paulus eine Erscheinung. Ein Mann aus Makedonien stand vor ihm und bat: »Komm herüber nach Makedonien und hilf uns!« Gleich nachdem Paulus die Erscheinung gehabt hatte, suchten wir nach einer Möglichkeit, um nach Makedonien zu gelangen. Denn wir waren sicher: Gott hatte uns dazu berufen, den Menschen dort die Gute Nachricht zu verkünden.
Von Troas aus setzten wir auf dem kürzesten Weg nach Samothrake über. Einen Tag später erreichten wir Neapolis. Von dort gingen wir nach Philippi. Das ist eine bedeutende Stadt in diesem Teil Makedoniens und eine römische Kolonie. In dieser Stadt blieben wir einige Zeit.
Am Sabbat gingen wir durch das Stadttor hinaus an den Fluss. Wir nahmen an, dass dort eine jüdische Gebetsstätte war. Wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die an diesem Ort zusammengekommen waren. Unter den Zuhörerinnen war auch eine Frau namens Lydia. Sie handelte mit Purpurstoffen und kam aus der Stadt Thyatira. Lydia glaubte an den Gott Israels. Der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie den Worten von Paulus aufmerksam zuhörte. Sie ließ sich taufen zusammen mit ihrer ganzen Hausgemeinschaft. Danach bat sie: »Wenn ihr überzeugt seid, dass ich wirklich an den Herrn glaube, dann kommt in mein Haus. Ihr könnt bei mir wohnen!« Sie drängte uns, die Einladung anzunehmen.
(c) Basisbibel, Deutsche Bibelgesellschaft
Predigt
Heute, meine Lieben, hören wir von Träumen. Vom Traum des Paulus wurde uns vorgelesen. Davon wird noch die Rede sein, aber vorher erinnere ich an einen anderen, einen viel älteren Traum: Diesen Traum träumte eine junge Königstochter in Phönizien am Ufer des Mittelmeeres. Im Traum erschien ihr ihre Heimat, ihr Mutterland in Gestalt einer Frau, die sie schützen wollte vor einem Fremden, der sie über das Meer in ein fremdes, unbekanntes Land führen wollte. Beunruhigt wachte die junge Königstochter auf. Was sollte dieser Traum bedeuten? Wenig später stieg sie wohl fast freiwillig auf den Rücken eines wunderschönen Stieres, auf dessen Rücken sie dann über das Meer kam. Der Stier war niemand anderer als der verkleidete Göttervater Zeus. Und die junge Königstochter? Sie hieß Europa.
Europa: aus einem Traum
Das ist der Gründungsmythos. Europa wurde dann zum Namen des westlichsten Teils des großen Kontinents Asien. Wo die Grenzen zwischen Asien und Europa genau verlaufen, ist immer ein bisschen umstritten. Sicher ist nur, dass es solche Grenzen gibt und geben muss. „Grenze“ wird zu einem Hauptthema, einem Hauptproblem und ist es das bis heute.
Ich kann also sagen: Nach diesem Mythos ist Europa aus einem Traum entstanden. Heute sagt man, dieser Kontinent ist nach 1945 aus Blut und Tränen geboren worden. Nicht aus einem Traum, sondern aus einem Albtraum erwacht. Wann beginnt dieser Albtraum? Mit den Kreuzzügen, als man ein christliches Abendland gegen das Morgenland in Stellung brachte? Mit dem Zeitalter der Entdeckungen und des Kolonialismus, der bis heute die Staatengemeinschaft belastet? Oder mit den Religionskriegen, von denen der unvorstellbare dreißigjährige ja nur ein Teil gewesen ist? Zuletzt war es die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs und dann der Zweite mit dem unermesslichen Leid und dem Menschheitsverbrechen des Holocaust. Sollte, ja musste dieser anhaltende Albtraum nicht endlich ein Ende finden?
Das Ende eines Albtraums
So ist es Gott sei Dank gekommen: Wachsame und mutige Menschen gründeten im Mai 1949 den Europarat und die ehemaligen Feinde saßen miteinander am Tisch. Ein Jahr später beschlossen sie die Europäische Erklärung der Menschenrechte und begannen mit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aus der dann später die EU werden sollte. Es waren vom christlichen Glauben geprägte Menschen, die aus der Not heraus vor siebzig Jahren ein neues Europa andachten. Robert Schumann, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi und viele andere.
So begann Europa zu wachsen: aus vielen kleinen Ideen, aus Träumen und Sehnsüchten.
So begann Europa zu wachsen, aus vielen kleinen Ideen, aus Träumen und Sehnsüchten. Natürlich war da viel Zufall im Spiel. Und natürlich hätte es auch anders kommen können. Aber es wurde die längste Friedenszeit in der Geschichte Europas. Und davon leben wir heute noch. Frieden und wirtschaftlicher Wohlstand, wenigstens mit möglichst geringer Ungleichheit. Nicht den Albtraum fortzusetzen, sondern das Gute bewahren und fördern. Die Demokratie, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Idee der Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, Solidarität, ein respektvolles Zusammenleben in aller Pluralität, die Europa kennzeichnet.
Die Lebensräume der Menschen im Blick
Das Sozialwort nimmt 2003 das Thema der Lebensräume auf. In konkreten Räumen leben wir als Menschen zusammen, in konkreten Räumen leben wir auch unseren Glauben, hoffentlich nicht gegeneinander und auch nicht nur nebeneinander sondern wirklich miteinander.
Der erste Lebensraum, der genannt wird, ist der ländliche Raum, geprägt von der Landwirtschaft, von der Natur, deren Bedrohung mittlerweile deutlicher gesehen wird, von Traditionen, auch kirchliche, die das Leben hier auszeichnen.
Der zweite Lebensraum ist die Stadt, erwähnt werden als Problemfelder die Armut und Wohnungslosigkeit, die Zuwanderung, das Miteinander von Alt und Jung und die schwierige Situation der Kirchen in den Städten.
Der dritte Lebensraum schließlich trägt die Überschrift: Europa und Regionen. Das ist interessant! Also zuerst Land, als zweites die Stadt und dann nicht, wie man erwarten könnte, der Staat, also Österreich oder Italien oder Kroatien oder wie auch immer, sondern Europa! Aber überraschend ist das eigentlich nicht.
Europa als Projekt der Kirchen
Die Kirchen haben die europäische Integration von Anfang an sehr aktiv unterstützt. Sie haben immer gewusst, dass sie zusammen gehören. Die Lutherischen in Schweden und die Methodisten in England, die Reformierten in der Schweiz und in Ungarn, die Waldenser in Italien. Aus ihnen ist dann die GEKE als Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa entstanden. Aber auch darüber hinaus, die Anglikaner, die Baptisten, die großen Orthodoxen Kirchen. Sie alle finden noch während des Kalten Krieges zusammen in der KEK, der Konferenz Europäischer Kirchen. Dazu natürlich die römisch-katholische Kirche, die meisten Menschen in Europa sind ja katholisch oder orthodox, wir Evangelische sind zahlenmäßig wenige, eine Minderheit, eine Diaspora, ausgestreute Samenkörner im Ackerfeld der Welt.
Und alle Kirchen zusammen haben 1997 in Graz beschlossen, ihre Zusammenarbeit zu stärken. Dazu wurde die Charta Oecumenica verfasst, das sind Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa. Sie wurde 2001 feierlich angenommen.
Der dritte Abschnitt heißt: „Unsere gemeinsame Verantwortung für Europa“ und vieles liest sich da wie aus dem Vertrag von Lissabon und den Grunddokumenten der EU, die Jahre später beschlossen wurden. Wörtlich heißt es: „Die Kirchen fördern eine Einigung des europäischen Kontinents. Ohne gemeinsame Werte ist die Einheit dauerhaft nicht zu erreichen. Wir sind überzeugt, dass das spirituelle Erbe des Christentums eine inspirierende Kraft zur Bereicherung Europas darstellt. Aufgrund unseres christlichen Glaubens setzen wir uns für ein humanes und soziales Europa ein, in dem die Menschenrechte und Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen. Wir betonen die Ehrfurcht vor dem Leben, den Wert von Ehe und Familie, den vorrangigen Einsatz für die Armen, die Bereitschaft zur Vergebung und in allem die Barmherzigkeit.“
Komm nach Makedonien
Nun aber zu unserem zweiten Traum von heute. Paulus erschien im Traum ein Mann aus Makedonien. Woran war der zu erkennen? Am Dialekt? An der Kleidung? Egal, im Traum ist ja die Logik außer Kraft gesetzt. Komm herüber und hilf uns! So die Bitte. Es geschieht und das Christentum betritt erstmalig europäischen Boden. Wie schon Europa selbst, die Königstochter aus Phönikien, kommt auch das Christentum über das Mittelmeer. Bis heute sind es immer dieselben Wege.
Geplant war das allerdings nicht. Paulus und seine Mitarbeiter waren freilich in eine Sackgasse geraten. Wo es mit ihnen und ihrer Mission weitergehen sollte, stand völlig in den Sternen. Erst mit dem Traum des Paulus und der Überfahrt übers Meer änderte es sich und wurde eine Türe geöffnet. Komm herüber und hilf uns! Ja, warum brauchte denn der Mann aus Makedonien Hilfe? Wieder bekommen wir keine Antwort.
Europa kann Hilfe gebrauchen
Heute wissen wir aber: Europa kann Hilfe wahrlich gut gebrauchen. Das Versprechen des Friedens ist zerbrochen. Im früheren Jugoslawien brach der Krieg aus und jetzt tobt er in der Ukraine, beinahe vergessen das Flüchtlingselend in Berg-Karabach, völlig erschütternd der Terrorangriff der Hamas auf Israel. Das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza. Das erschreckende Ansteigen des Antisemitismus auf der ganzen Welt und hier bei uns.
Und das Wohlstandsversprechen? Im globalen Wettstreit steht Europa nicht immer gut da. Die drohende Klimakatastrophe wird alles noch viel schlimmer machen. Viel schlimmer.
Migration: bis heute ein Thema
Ja, komm doch herüber und hilf uns! Paulus ist gekommen, wie wir gehört haben, und trifft nicht auf einen Mann aus Makedonien, sondern auf Lydia, eine Frau aus Thyatira. Das liegt nicht in Makedonien oder in Europa, sondern mitten in der heutigen Türkei, eine Gegend, die damals Lydien hieß, deshalb der Name Lydia, also: „die aus Lydien“. Ich habe noch im Religionsunterricht gelernt, sie war eine reiche Purpurhändlerin. Das ist möglich, aber nicht ganz sicher. Es gibt ein paar Punkte, die dagegen sprechen: Sie war eine Migrantin, sie sympathisierte mit dem Judentum, sie war eine alleinstehende Frau, die in der Textilindustrie Arbeit gefunden hat. Zum Beten ging sie mit den anderen Frauen aus der Stadt hinaus.
Wie auch immer: Mit ihr beginnt das Christentum in Europa. Lydia, die übers Meer gekommene Arbeitsmigrantin, öffnet ihr Haus, ihr Herz, ihr Leben.
Eine Hilfe in Glaube, Liebe, Hoffnung?
War das die Hilfe, um die Paulus gebeten worden ist? Eine Hilfe in Glaube, Liebe, Hoffnung? In Einsicht vielleicht? Europa hat sich doch trotz aller Krisen ganz gut eingerichtet. Wenn wir jammern, dann meist auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Aber unser Wohlstand, er geht doch auf Kosten anderer, auf Kosten der Menschen im Süden, auf Kosten der uns nachfolgenden Generationen, unserer Kinder und Enkelkinder, auf Kosten unserer Mitgeschöpfe, ja auf Kosten von allem Mitgeschaffenen insgesamt. Wo soll das noch hinführen? Kann das so weiter gehen?
Europa: auch heute in Hoffnungsprojekt
Europa – so meine ich – ist nie ein nostalgischer Traum vom längst vergangenen, angeblich heilen christlichen Abendland. Das hat es ja wahrscheinlich nie gegeben. Nein, Europa sieht nicht zurück, sondern nach vorne! Es ist ein Zukunftsprojekt, ein Hoffnungsprojekt.
Ich bin mir sicher, dass Paulus im Haus der Lydia von der Hoffnung gesprochen hat. Ja, er kann Gott sogar als Gott der Hoffnung bezeichnen. Der unnahbar ferne, unbegreifliche Gott verbindet sich mit unserer, mit menschlicher Hoffnung. Das ist der Gott des Exodus, der Gott der Auferweckung Jesu von den Toten. In seinem Namen, im Vertrauen auf ihn, der uns immer entgegen kommt, gestalten wir miteinander die Zukunft, gestalten wir miteinander Europa. Das hat Paulus nach Europa gebracht.
Seine Worte sind uns gegeben (Römer 15,13): „Der Gott der Hoffnung ... erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.“