Was sehe ich, wenn ich wirklich hinschaue?

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Predigt von Angelo Comino zu Johannes 9,1-41 in der EmK Wien-Fünfhaus

Was sehen ich, wenn ich wirklich hinschaue?

Predigttext Johannes 9,1-41 (Basis Bibel) 

Jesus heilt einen Mann, der blind geboren wurde

1Jesus ging an einem Mann vorbei und sah,

dass der von Geburt an blind war.  

2Da fragten ihn seine Jünger:

»Rabbi, wer war ein Sünder,

sodass er blind geboren wurde –

dieser Mann oder seine Eltern?«

3Jesus antwortete:

»Weder war er selbst ein Sünder,

noch waren es seine Eltern.

Vielmehr sollen die Taten Gottes

an ihm sichtbar werden.

4Wir müssen die Taten vollbringen,

mit denen Gott mich beauftragt hat,

solange es noch Tag ist.

Es kommt eine Nacht,

in der niemand mehr etwas tun kann.

5Solange ich in der Welt bin,

bin ich das Licht der Welt.«

6Nachdem er das gesagt hatte,

spuckte er auf den Boden.

Aus der Erde und dem Speichel machte er eine Paste

und strich sie dem Blinden auf die Augen.

7Dann sagte er ihm:

»Geh und wasch dich im Teich von Schiloach!«

– Schiloach heißt übersetzt »der Gesandte«. –

Der Mann ging dorthin und wusch sich.

Als er zurückkam, konnte er sehen.

8Da sagten seine Nachbarn und die Leute,

die ihn vorher als Bettler gekannt hatten:

»Ist das nicht der Mann,

der immer dasaß und bettelte?«

9Die einen sagten: »Das ist er!«

Die anderen sagten:

»Nein, er sieht ihm nur ähnlich!«

Er selbst aber sagte: »Ich bin es wirklich!«

10Da fragten sie ihn:

»Wieso kannst du auf einmal sehen?«

11Er antwortete: »Der Mann, der Jesus heißt,

machte eine Paste und strich sie mir auf die Augen.

Dann sagte er zu mir:

›Geh zum Teich von Schiloach und wasch dich.‹

Ich ging dorthin,

wusch mich und konnte sehen.«

12Sie fragten ihn: »Wo ist er jetzt?«

Er antwortete: »Ich weiß es nicht.«

Die Pharisäer untersuchen die Heilung

13Sie brachten den Mann, der blind gewesen war,

zu den Pharisäern.

14Der Tag, an dem Jesus die Paste gemacht

und dem Blinden die Augen geöffnet hatte,

war ein Sabbat.

15Nun fragten ihn auch die Pharisäer,

wie er sehend geworden war.

Da erzählte er es noch einmal:

»Der Mann strich eine Paste auf meine Augen.

Dann wusch ich mich und konnte sehen.«

16Einige von den Pharisäern sagten:

»Dieser Mensch kommt nicht von Gott,

denn er hält den Sabbat nicht ein.«

Andere meinten aber:

»Wie kann jemand solche Zeichen tun,

wenn er selbst ein Sünder ist?«

So kam es zu Meinungsverschiedenheiten unter ihnen.

17Da fragten sie den Blinden noch einmal:

»Und du, was sagst du über ihn?

Schließlich hat er dir die Augen geöffnet!«

Er antwortete: »Der Mann ist ein Prophet.«

18Nun glaubten die jüdischen Behörden nicht,

dass er blind gewesen war und jetzt sehen konnte.

Deshalb ließen sie die Eltern des Geheilten rufen

19und fragten sie: »Ist das euer Sohn?

Ihr sagt, dass er von Geburt an blind war.

Wieso kann er jetzt sehen?«

20Die Eltern antworteten: »Wir wissen,

dass er unser Sohn ist und blind geboren wurde.

21Wir wissen nicht, wieso er jetzt sehen kann.

Wir wissen auch nicht, wer ihm die Augen geöffnet hat.

Fragt ihn selbst.

Er ist alt genug, um für sich selbst zu sprechen.«

22Das sagten seine Eltern,

weil sie sich vor den jüdischen Behörden fürchteten.

Die hatten nämlich schon beschlossen:

Wer bekennt, dass Jesus der Christus ist,

wird aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen.

23Deswegen sagten seine Eltern:

»Er ist alt genug! Fragt ihn selbst!«

Das Bekenntnis des Geheilten

24Die Pharisäer ließen den Mann,

der blind gewesen war, noch einmal zu sich rufen.

Sie forderten ihn auf:

»Bei der Ehre Gottes: Sag die Wahrheit!

Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist!«

25Der Mann antwortete: »Ich weiß nicht,

ob er ein Sünder ist.

Aber ich weiß eins:

Ich war blind, und jetzt kann ich sehen.«

26Sie fragten ihn weiter: »Was hat er mit dir gemacht?

Wie hat er dir die Augen geöffnet?«

27Er antwortete ihnen:

»Das habe ich euch schon gesagt,

und ihr habt es nicht gehört.

Warum wollt ihr es noch einmal hören?

Wollt ihr etwa auch Jünger von ihm werden?«

28Da beschimpften sie ihn und sagten:

»Du bist ein Jünger von ihm!

Aber wir sind Jünger von Mose.

29Wir wissen, dass Gott mit Mose gesprochen hat.

Aber von dem da wissen wir nicht, woher er kommt.«

30Der Mann gab ihnen zur Antwort:

»Das ist doch erstaunlich:

Ihr wisst nicht, woher er kommt.

Aber mir hat er die Augen geöffnet!

31Wir wissen doch: Gott erhört nicht die Sünder.

Gott hört auf die, die ihn ehren und seinen Willen tun.

32Seit die Welt besteht, hat man das noch nie gehört:

Jemand hat einem Menschen die Augen geöffnet,

der von Geburt an blind war.

33Dieser Mann könnte nichts vollbringen,

wenn er nicht von Gott käme.«

34Sie gaben ihm zur Antwort:

»Von Geburt an bist du ganz und gar ein Sünder!

Ausgerechnet du willst uns belehren?«

Und sie warfen ihn hinaus aus der jüdischen Gemeinde.

35Jesus hörte,

dass sie den Mann hinausgeworfen hatten.

Als er ihn dann fand, fragte er ihn:

»Glaubst du an den Menschensohn?«

36Der Mann antwortete:

»Herr, sag mir, wer ist es,

damit ich an ihn glauben kann.«

37Jesus sagte: »Du hast ihn gesehen.

Es ist der, der mit dir redet.«

38Da sagte der Mann: »Ich glaube, Herr!«

Und er fiel vor ihm auf die Knie.

Die Blindheit der Pharisäer

39Jesus sprach:

»Ich bin in diese Welt gekommen, um Gericht zu halten:

Die nicht sehen können, sollen sehend werden.

Und die sehen können, sollen blind werden.«

40Das hörten einige von den Pharisäern,

die bei ihm waren.

Sie fragten ihn: »Sind wir etwa auch blind?«

41Jesus antwortete:

»Wenn ihr blind wärt, wäret ihr keine Sünder.

Aber jetzt behauptet ihr: ›Wir sehen!‹

Darum bleibt eure Sünde bestehen!«

 

Einführung

Die Botschaft des heutigen Textes ist bekannt. Ich fasse sie kurz zusammen, denn ich möchte mich anschließend auf zwei Aspekte fokussieren. Jesus ist das wahre Licht dieser Welt: Dieses Licht erhellt unsere Wege, schenkt uns klare Sicht für unser Leben, erwärmt unsere Herzen. Sünde hingegen ist Misstrauen, das Verharren in stolzer und trotziger Hoffnungslosigkeit, die beharrliche Zurückweisung Gottes, unserer selbst und unseres Nächsten. Sie hat also nichts mit körperlichen Gebrechen zu tun, dennoch zeigt sich eben am Körper des Blinden, wer Jesus ist und was er für die Welt bedeutet. Die wahre Blindheit ist nicht die körperliche, sondern der Unglaube, in dem die Pharisäer verharren. Der gegnerische Unglaube führt nach Johannes zur geistigen Verblendung. Der Text entfaltet sich in einer stilvollen Steigerung von Schuldzuweisung und Ursachenforschung, die letztlich im Ausschluss des blinden Bettlers von der jüdischen Gesellschaft und in seiner Aufnahme in die christliche Gemeinschaft mündet.

Der erste Aspekt

Die zwei Aspekte, auf die ich eingehen möchte, habe ich anklingen lassen. Beide betreffen die Auswahl der Metaphern, mit denen Johannes den Glauben verteidigt. Zugegebenermaßen tue ich Johannes ein wenig Unrecht, da ich antike Texte mit einer modernen Brille lese, aber trotzdem… Zum ersten Aspekt: Die körperliche Blindheit als Metapher des Unglaubens ist, so glaube ich, eine unglückliche literarische Entscheidung, da das Fehlen des Sehvermögens mit Uneinsichtigkeit gleichgestellt wird. Nicht das Was, worauf verwiesen wird, bereitet mir Unmut, sondern das Wie. Die lichtspendende, unser Leben erhellende Nachricht von Jesus von Nazareth ist für uns Christen und Christinnen wesentlich. Das steht außer Zweifel. Ich frage mich aber, warum eine Behinderung als heilungsbedürftig dargestellt wird und für die Missionierung von „Ungläubigen“ vereinnahmt wird. Ja, stimmt, es wird gerade am Anfang gesagt, dass sie nicht mit Sünde gleichzustellen sei, aber dann wird sie doch geheilt, als ob sie eine Sünde wäre, und als negatives Sinnbild missbraucht. Ich frage mich, wie fühlt sich wohl eine blinde Person bei der Lektüre der heutigen Erzählung. Das heißt nicht, dass wir uns als Sehende schuldig fühlen sollen. Das Sehvermögen darf in unserem metaphorischen Glaubensrepertoire Anwendung finden; es ist ein schönes Sinnbild neben vielen anderen. Es soll uns aber klar sein, dass das Sehen kein Privileg ist, es gibt uns nicht das Recht, das Nichtsehen als negative Metapher des Unglaubens zu missbrauchen. Wie wohltuend ist es, liebe Gemeinde, wenn die Gesellschaft auf die Andersartigkeit der Mitglieder Rücksicht nimmt!

Der zweite Aspekt

Der zweite Aspekt hängt mit der Polarisierung der vertretenen Meinungen zusammen. Die Metapher des Lichts, so schön sie auch sein mag, erfordert – und leider fördert – die Metapher der Dunkelheit als geistige Blindheit. Die nach Johannes verblendeten und uneinsichtigen Juden sind wieder einmal die Gegenspieler, die Widersacher. Das Hinterlistige dabei ist, dass Johannes den „anderen“ die eigene polarisierende Meinung zuschreibt, in den Mund legt. Dabei muss Jesus’ Nachricht nicht zwangsläufig zur Verachtung der Gegenposition führen. Die Gesprächspartner müssen nicht unbedingt als geistig Verblendete abgestempelt werden. Auch wenn die Metapher des Pharisäers als Ungläubigen aus den Anfängen der Jesus-Bewegung noch verständlich sein mag, ist sie heutzutage so nicht mehr anwendbar. Der Glaube an das verkörperte Wort Gottes verkommt in dieser Geschichte zu einem – meiner Einsicht nach – unnötigen und folgenschweren Gegensatz von Juden und Christen. Ich habe nicht nur mit dem antisemitischen Unterton meine Schwierigkeiten, sondern auch im Allgemeinen mit dieser Art von Streitgespräch: Polarisierungen torpedieren eine der besten menschlichen Errungenschaften, d.h. eine gesunde Gesprächskultur. Mit einem Schlag werden Nuancen, Zwischenpositionen, die Komplexität mancher Zusammenhänge einseitig für entbehrlich erklärt, Gesprächspartner zu Widersachern gemacht, deren Bedürfnisse missachtet und nur mehr eine Position zur einzig wahren emporgehoben. Wie wohltuend ist es, liebe Gemeinde, in einer Gesellschaft zu leben, die auf jede Stimme Rücksicht nimmt.

Positive Umdeutung der Metaphern

Was machen wir nun mit diesen zwei Sinnbildern: Blindheit und Pharisäer? Die Frage ist wahrscheinlich falsch gestellt, ich möchte sie umformulieren: Was sehen wir, wenn wir wirklich hinschauen? Was sagen wir, wenn wir einfühlsam sprechen? Der Text zeigt uns, dass Sünde nicht mit unserem Körper bescheinigt werden kann und dass die gesellschaftliche Polarisierung von Meinungen oft zu unerwünschten Ergebnissen führen kann. Ich finde, der Text lehrt uns indirekt, manches ins rechte Licht zu rücken, einleuchtende Gründe für unsere Meinung zu liefern, Worte und Sinnbilder mit Vorsicht und Bedacht auszuwählen. Im kleinen Wirrwarr von Schuldzuweisung und Ursachenforschung kann der Blick auf den blinden Bettler verloren gehen und das finde ich sehr schade. Im Laufe der Erzählung nimmt er wunderschön Gestalt an. Aus einem Bettler, den man einfach nur im Vorübergehen aus dem letzten Blickwinkel irgendwie wahrnimmt, wird ein Mensch mit Profil, mit einer eigenen Identität, der zu seiner befreienden Erfahrung steht. Er lässt sich nicht in den Sog der polarisierenden Vorwürfe zerren, nein, er behauptet sich im Verhör sogar mit beneidenswertem Schmäh – ich liebe seine schlagfertige Antwort: „Warum wollt ihr die Geschichte noch einmal hören? Wollt ihr etwa seine Jünger werden?“ Der blinde Mann, der leider keinen Namen trägt, ist am Ende noch weiter an den Rand der Gesellschaft gerückt. Gerade die Polarisierungen, die Johannes so stark unterstreicht, machen ihn vom Bettler zum Ausgestoßenen. Aber die Geschichte hat eine schöne Kehrtwende: Genau an diesem Rand fängt das Christentum an! Der Blinde passt sich nicht mehr dem vorwurfsvollen gesellschaftlichen Diskurs an. Er möchte aufrichtig aufgeklärt werden und Verantwortung für das übernehmen, woran er glauben möchte. „Sag mir, wer dieser Menschensohn ist, damit ich an ihn glauben kann!“ Wir Christen und Christinnen können die Identitätsfindung eines jeden und einer jeden Einzelnen fördern. Wie wohltuend ist es, liebe Gemeinde, wenn wir Ausgrenzung und Polarisierungen hinter uns lassen.

Hinschauen, hinhören, hinfühlen

Die Frage, die euch heute mitgeben möchte, ist einfach: Was sehen wir, wenn wir genau hinschauen? Sie wird nicht aus der privilegierten Warte eines Sehenden gestellt, denn sie kann auch sehr einfach umformuliert werden: Was hören wir, wenn wir genau hinhorchen? Was spüren wir, wenn wir genau hinfühlen? Was sagen wir, wenn wir rücksichtsvoll sprechen? Aus der Sicht des blinden Bettlers – im Übrigen deuten manche Theologen die letzten Sätze so, dass er körperlich blind geblieben ist und die Heilung sich nur auf die Erkenntnis von Jesu als dem Messiah bezieht… Aus der Sicht des blinden Bettlers ist das eine herzerwärmende, mutspendende Erzählung. Unabhängig von seiner Behinderung kann der blinde Bettler am Ende sich selbst erkennen, Wert geben und sich der Welt zeigen. Jesu lebensspendende – in diesem Fall sogar identitätsstiftende – Nachricht holt ihn inmitten von Polarisierungen vom Straßenrand der Gesellschaft und macht ihn zu einer vollmundigen Person. Er steht dazu, er übernimmt Verantwortung, selbst wenn diese Verantwortung ihn aufgrund der Streitigkeiten zum Ausgestoßenen macht. Aber genau da beginnt unsere Aufgabe als christliche Gemeinde: Eine wohltuende, inklusive Gesprächspartnerin. Die negative Metapher der geistlichen Blindheit deute ich für mich, der ich sehen kann, als die positive Metapher des Sehenswerten, des Erkennenswerten um. Sie spornt mich an, nach dem Hilflosen am Rande der Gesellschaft Ausschau zu halten. Sie schenkt mir die Einsicht, mich nicht in Polarisierungen zu verwickeln, sondern mich nach dem Menschlichen zu sehnen.

Nachtrag: Die Bibel lesen

Am Ende noch ein Nachtrag zum Bibellesen. Ich habe auf zwei Aspekte verwiesen, die Vorsicht gebieten. Scheint die lichtspendende Nachricht von Jesus von Nazareth weniger hell, wenn wir sie auf manche Aspekte hinterfragen? Stellen wir das Licht des Wortes Gottes unter den Scheffel, wenn wir kritisch damit umgehen? Ich glaube nicht. Ich finde, wir nehmen die Bibel als Gesprächspartnerin dann ernst, wenn wir uns damit auseinandersetzen. Sie bleibt als lebendiges Wort Gottes am Leben, wenn wir genau hinhören, hinschauen, hinfühlen, wenn uns manches gefällt und anderes nicht, wenn wir Vorsicht walten lassen, wo Vorsicht angebracht ist, und natürlich wenn wir das Schöne erkennen und auch mit anderen teilen.

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