„Kommt mit an einen ruhigen Ort, nur ihr allein, und ruht euch ein wenig aus.“

Faith Impulse

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Stefan Schröckenfuchs

Pastor, Superintendent


Predigt zu Markus 6,30-34 und 53-56

30Und die Apostel kamen bei Jesus zusammen und verkündeten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. 31Und er sprach zu ihnen: Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruht ein wenig. Denn es waren viele, die kamen und gingen, und sie hatten nicht Zeit genug zum Essen. 32Und sie fuhren in einem Boot an eine einsame Stätte für sich allein. 33Und man sah sie wegfahren, und viele hörten es und liefen aus allen Städten zu Fuß dorthin zusammen und kamen ihnen zuvor. 34Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er fing eine lange Predigt an.

 

53Und als sie hinübergefahren waren ans Land, kamen sie nach Genezareth und legten an. 54Und als sie aus dem Boot stiegen, erkannten ihn die Leute alsbald 55und liefen im ganzen Land umher und fingen an, die Kranken auf Tragen überall dorthin zu bringen, wo sie hörten, dass er war. 56Und wo er in Dörfer, Städte oder Höfe hineinging, da legten sie die Kranken auf den Markt und baten ihn, dass diese auch nur den Saum seines Gewandes berühren dürften; und alle, die ihn berührten, wurden gesund.

Die Bibel
Aus dem Markusevangelium, Kapitel 6

“Heute besuche ich mich. Hoffentlich bin ich zu Hause.“

Ihr kennt vielleicht dieses Zitat von Karl Valentin, der auf treffsichere und humorvolle Weise auf den Punkt bringt, dass es gar nicht so sicher ist, dass wir auch da sind, wo wir gerade sind – nämlich bei uns selbst. Diese Einsicht hat einiges mit dem heutigen Evangelium zu tun. 

Vielleicht habt ihr vorhin, als das Evangelium gelesen wurde, ein bisschen gerätselt, worum es eigentlich geht. Wir haben ja keine durchgängige Geschichte mit Spannungsbogen und Pointe gehört, die gut in Erinnerung bleiben würde, sondern zwei Abschnitte mit einer eher allgemeinen Schilderung, wie das mit Jesus so war. 

Jesus, das ist ganz eindeutig, war zu diesem Zeitpunkt sehr populär. Ständig kommt und geht irgendwer; von überall her bringen die Leute die Kranken, in der Hoffnung, dass Jesus sie berührt. Wenn man in Markus 6 noch etwas mehr liest, liest man auch von der Speisung der 5.000 – genauer gesagt der 5.000 Männer. Die Frauen und Kinder kommen noch dazu. Das sind vielleicht noch nicht Zahlen wie bei Taylor Swift, aber für die damalige Zeit dennoch unvorstellbar viele. 

Jesus war ein Superstar – oder vielleicht sogar der Superstar. Und wie es scheint, hat er auch ein sehr tatkräftiges Team. Denn auch seine Jünger werden von ihm ausgesandt, damit sie predigen und heilen wie er. 

Doch mitten in den ganzen Trubel und das Kommen und Gehen fällt ein kleiner Satz, den man leicht überliest. Es sind die Worte Jesu an seine Jünger: 

„Kommt mit an einen ruhigen Ort, nur ihr allein, und ruht euch ein wenig aus.“ 

Spannend, oder? Da sind unheimlich viele Menschen, die von Jesus und seinen Jüngern etwas wollen. Oder sogar dringend brauchen; denn viele von ihnen sind krank. Doch Jesus sagt: Kommt, wir ziehen uns zurück. Das klingt, wie wenn ein Arzt, dessen Wartezimmer überfüllt ist, zu seinem Team sagt: Kommt, wir gehen jetzt einfach. 

Na gut, möchtet ihr jetzt vielleicht einwenden: Auch ein Arzt und sein Team muss mal eine kurze Pause einlegen, um etwas zu essen und zu trinken. Jesus geht es hier aber um etwas mehr als nur die Kaffeepause. 

Im Griechischen steht dort, wo es uns „ruhiger Ort“ heiß, das Wort „ἔρημον“. Im Deutschen gibt es das Wort „Eremit“ – das bedeutet wörtlich eigentlich „Wüstenbewohner“. Einsiedler sagt man bei uns auch manchmal dazu: Menschen, die vollkommen abgeschieden und zurückgezogen leben. 

Die englischen Übersetzungen übersetzen hier treffsicher mit „desert place“ – einem Wüstenort. Kommt, wir ziehen uns in die Einöde zurück – dorthin, wo es nicht nur ruhig ist, sondern einsam und still ist. 

Ich habe mich in der vergangenen Tagen auch ein wenig in die Stille zurückgezogen – wenn auch nicht ganz freiwillig; ich war nämlich krank. Und wie das so ist, wenn man aus einer Zeit voller Trubel zurückkommt (bei mir war das die Sommerfreizeit) und eigentlich noch viel zu tun hätte, dann fällt einem das mit der Ruhe gar nicht so leicht. Zuerst versucht man noch irgendwie weiterzuarbeiten. 

Das geht aber nicht lange. Dann schaut man aufs Handy oder den Fernseher. Aber irgendwann ist auch das zu viel. Dann hat man nur noch sich und die eigenen Gedanken – und die werden mitunter ziemlich laut.

Dorothee Sölle, die bekannte deutsche Theologin, spricht in ihrem Buch über Mystik sogar vom „stillen Geschrei“. Je stiller es um mich herum wird, umso lauter wird es – zuerst einmal – in unserem Kopf. Da sind zuerst die Gedanken an Dinge, die man eigentlich noch erledigen sollte – das eine ganz dringend, und das andere schiebt man schon ewig vor sich her. Oder es kommen einem vielleicht noch Dinge aus der Vergangenheit in Erinnerung – etwas, worüber man sich geärgert hat, oder wo man von jemandem verletzt worden ist, oder sich nicht sicher ist, ob man einen Fehler gemacht hat. 

Vielleicht schaut man zwischendurch doch noch mal aufs Handy – und sieht die Urlaubsfotos von Freunden, und ärgert sich: Warum sind die auf Urlaub, und ich hänge hier dämlich rum? Ich glaube ihr wisst, was ich meine. 

Wirklich zur Ruhe zu kommen, im Sinne von: Jetzt lasse ich mal die Dinge, und bin einfach mal nur bei mir – ist gar nicht so leicht. Ja, in Wirklichkeit fällt es uns sogar schwer. 

Doch genau das will Jesus von seinen Jüngern: Ihr zieht euch jetzt erst mal zurück und geht ins ἔρημον – in die Einöde. 

Unfreiwillig in der Wüste

Ob die Jünger das überhaupt wollen? Es wäre doch gerade jetzt wahnsinnig viel zu tun. Sie werden gebraucht. Und: Sie haben ja gerade auch unheimlich viel Erfolg. 

Jesus aber lässt einfach alles liegen und stehen. Und zwar wortwörtlich. Er setzt sich mit den Jüngern in ein Boot und fährt weg, um – und das finde ich besonders schön –  mit ihnen allein zu sein.  

Heute besuche ich mich. Hoffentlich bin ich zu Hause. Das sagte Karl Valentin. Und ich möchte es umdeuten: Heute kommt Jesus mich zu besuchen. Hoffentlich bin ich zu Hause. 

Die Stille, die Leere, die Einöde, in der nichts ablenkt, brauchen wir, um bei uns zu sein. Jesus spricht nicht von der Ruhe des Urlaubs – Urlaub heißt bei uns oft ja auch wieder nur in irgendeiner Weise aktiv zu sein: Schwimmen, Wandern, ins Museum gehen, Selfies machen und mit unseren Freunden teilen. Jesus spricht von einer Ruhe, die uns hilft zu uns selbst zu kommen. Denn er will bei uns sein. 

Der Wert der Stille

Der Wert, den Jesus den Zeiten der Stille und Einsamkeit zugemessen hat, ist erstaunlich. Einsame, stille Orte gab es zu seiner Zeit vermutlich zuhauf. Die Weltbevölkerung zählte zur Zeit Jesu vermutlich nicht viel mehr als 170 Millionen Menschen, und in Jerusalem beispielsweise lebten nicht mehr als 40.000 Menschen. Heute wohnen auf der Erde mehr als 8 Milliarden Menschen, und in Jerusalem fast eine Million. Zusätzlich sind wir heute permanent in Echtzeit mit Nachrichten aus aller Welt versorgt, und egal ob ich in Wien, Italien oder den USA bin, ich kann jederzeit meine Freunde anrufen oder per Videocall mit ihnen sprechen. 

Die Herausforderung, Freiräume für die Stille zu schaffen, ist also ungemein gewachsen. Es wird alles immer schneller und hektischer, und wir können immer leichter an jedem beliebigen Ort dieser Erde sein – sei es mit dem Auto, dem Flugzeug, Zoom oder Google Maps. Aber die Dinge ruhen zu lassen, um bei uns selbst zu sein, wird immer schwieriger für uns. 

Dabei ist uns – wenn es ums Ruhen geht – nicht nur Jesus ein Vorbild, sondern auch Gott selbst: An sechs Tagen, so erzählen die biblischen Schöpfungsmythen, hat Gott die Welt erschaffen; am siebten aber hat er geruht, und sich einfach über das Geschaffene gefreut. 

Wäre die Welt besser geworden, wenn Gott den siebten Tag auch noch dazu verwendet hätte, um noch mehr zu tun? Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Die Welt wäre besser geblieben, hätten wir Menschen es Gott konsequenter gleich getan!

Heilige Zeiten

Damit wir zur Ruhe kommen, braucht es Freiräume – heilige Zeiten hat man das früher genannt. Unsere Vorfahren – und damit meine ich schon die Generation meiner Groß- und Urgroßeltern – haben noch gewusst, was heilige Zeiten sind. Für die Woche den Sonntag, für den Tag das Abendgebet. Und Fastenzeiten für das Jahr. 

Heilig meint zunächst einfach einmal "nicht profan": Das Profane, das ist das Alltägliche, das „Gschäft“. Das hat auf das Heilige keinen Zugriff. Es sind Zeiten, in denen der Mensch einfach ruht, um bei einander, und damit auch bei sich zu sein. 

Dass man dabei so weit gehen muss, von einer Sonntagspflicht zu sprechen, oder – wie es im orthodoxen Judentum noch heute der Fall ist – alles, was in irgendeiner Form „Arbeit“ wäre, am Sabbat vollkommen zu verbieten, glaube ich nicht. Und doch glaube, ich, dass wir sehr gut daran tun, solche „heiligen“ Zeiten, in denen das normale Treiben ruht, wieder ernster zu nehmen. 

Der Sonntag 

Wie gesagt ist schon der Sonntag mit seinem Gottesdienst eine solche heilige Zeit. Wir kommen am Sonntag nicht zusammen, um etwas zu produzieren oder zu konsumieren. Was wir im Gottesdienst tun, das ist zweckfrei: Wir loben, was gut ist, und wir danken für das, worüber wir uns freuen. Wir klagen über das, was zu beklagen ist, und unsere Bitten legen wir in Gottes Hand. Wir hören die Worte Gottes. Und wir legen die Dinge des Alltags für eine Weile aus der Hand. 

Und das ist gut so. Denn wenn wir nicht immer wieder loslassen, stehen wir in der Gefahr, uns zu verlieren, und wir brennen innerlich aus. Und unser Planet brennt mit uns. 

Jesus lädt uns ein, zur Ruhe zu kommen – damit wir zu uns kommen. Denn er will bei uns sein. Jesus hat das übrigens auch selbst getan. Immer wieder hat er sogar seine Jünger weggeschickt, um für sich allein mit Gott zu sein. Auch wir tun gut daran, uns unsere eigenen Rückzugsorte im Alltag zu schaffen – und die Leere, die Stille zu suchen. 

Das Gebet als Rückzugsort im Alltag

Wer seiner Seele etwas Gutes tun will, tut gut daran, sich auch einen solchen Freiraum zu schaffen. Einen Ort in der Wohnung, einen Zeitpunkt im Tag – und ich fülle ihn mit einem kleinen Ritual: Ich zünde eine Kerze an. Ich spreche ein Gebet (es kann ruhig immer dasselbe sein). Ich lese einen Psalm – nicht um zu verstehen – ich höre mir dabei einfach nur zu. Ich achte auf meinem Atem. Und ich bin für eine Weile einfach da. Wer das regelmäßig macht, wird es irgendwann nicht mehr missen wollen. 

So ähnlich hat es auch Jesus gemacht. Und weil Jesus immer wieder den Rückzug, die Einöde und das Gebet gesucht hat, war es ihm möglich, dann auch wieder für andere da zu sein. 

Nur wer bei sich selbst ist, ist auch für andere da. 

Deshalb haben die Menschen so sehr seine Nähe gesucht, und sie haben seine Gegenwart als heilsam erlebt: weil Jesus tatsächlich da war. 

Und das ist der letzte Gedanke meiner Predigt: Es geht nicht darum, dass wir unser ganzes Leben im ἔρημον, in der Einöde verbringen sollten. Das ist den Einsiedlern und den Wüstenmönchen vorbehalten. Und das sind wir nicht. Aber ohne den regelmäßigen Rückzug geht es auch nicht. Schon gar nicht in unserer Zeit. 

Eine christliche Gemeinde soll immer um eine Gemeinschaft sein, in der man sich gegenseitig auf dem Weg der Nachfolge Jesu stärkt. Darum sollt ihr wissen, dass unsere Gemeinde für euch immer ein ἔρημον sein soll: ein Ort, an dem du nicht zuerst etwas leisten musst, wenn du kommst. Sondern an dem du vor allem einfach da sein darfst. In der Gemeinschaft. Bei dir selbst. Bei Jesus. Bei Gott. 

Gott segne dich auf deinem Weg. Amen.

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