Sich erinnern!
Faith Impulse

Pastorin

Der 9. November
Heute ist der 9. November. In der deutschen Geschichte einer der Tage, an denen vieles, gefühlt manchmal alles, zusammenkommt. Jedenfalls das 20. Jahrhundert: Der schlimmste Teil dieser Geschichte, den ich selbst nur aus den Geschichtsbüchern kenne, und der Teil, der mich als Jugendliche auf eine nachhaltige Weise beeindruckt hat.
Drei 9. November (und es gäbe noch mehr zu diesem Datum zu sagen, vgl. dazu auch https://de.wikipedia.org/wiki/9._November_(Deutschland); letzter Zugriff 11.11.2025):
9. November 1918 – Novemberrevolution in Berlin: Ausrufung der Republik in Deutschland und damit Ende des Kaiserreiches.
9. November 1938 – Scheitelpunkt der Novemberpogrome vom 7. bis zum 13. November 1938: Nach dem Mordanschlag auf einen deutschen Diplomaten in Paris inszenieren die Nationalsozialisten die Novemberpogrome. In der NS-Propaganda werden die vor allem von SA- und SS-Mitgliedern in Zivilkleidung begangenen Ausschreitungen als Ausdruck des „Volkszorns“ gegen die Juden dargestellt. In ganz Deutschland und Österreich werden jüdische Geschäfte und Einrichtungen demoliert, Synagogen in Brand gesteckt. Hunderte von Jüdinnen und Juden werden innerhalb von wenigen Tage ermordet. Diese Ereignisse markieren den Übergang von der sozialen Ausgrenzung und Diskriminierung zur offenen Verfolgung in der Diktatur des Nationalsozialismus, die bis zum Völkermord an etwa sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden und weiteren ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen in den Vernichtungslagern des NS-Regimes führt.
9. November 1989 – Mauerfall: Die Öffnung der innerdeutschen Grenze verdeutlicht und verstetigt den Erfolg der friedlichen Revolution in der DDR, dem am 3. Oktober 1990 die deutsche Wiedervereinigung folgt. Ich erinnere mich noch, wie ich am Fernseher saß und das mit meinen Eltern verfolgt habe, an diesem Abend Ende der 1980er.
Die Augen nicht verschließen
9. November – hier ist nicht Deutschland, ich weiß es wohl, aber ich kann an diesem Tag nicht aus meiner Haut. Ich muss mich erinnern. An das, was alles war, an diesem Tag. Heute im Gottesdienst, als Nachfolgerin des Juden Jesus, aber vor allem an das, was ich oft lieber weiter von mir weg hätte. Sich daran zu erinnern, ist oft schwer. Und ja, ich bin später geboren. Habe es nicht selbst miterlebt und kann auch nichts dafür. Auf eine Art geht es mich eigentlich gar nichts mehr an, könnte man denken. Muss nicht irgendwann auch mal Schluss sein? Für manche ist halt nie Schluss damit. Für die, die überlebt haben. Für die, deren Nachfahren deren Erzählungen hörten. Die, deren goldene Steine der Erinnerung auch hier um die Ecke angebracht sind, an der Reindorfgasse 15 und 16 zum Beispiel oder an der Sechshauser Straße 29 und 80. Die, die in den Tempel gegangen sind in der Turnergasse. Die können nicht sagen „Ich habe keine Ahnung, wovon du da sprichst.“ Die können nicht sagen: „Wir wussten es ja nicht.“ Oder „Halt dich lieber raus.“
"Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, kann auch die Gegenwart nicht sehen. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnert, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ Das hat der ehemalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes oder vielmehr: des Tags der Befreiung am 8. Mai 1985 gesagt. Sich erinnern, um menschlich zu bleiben – ein Gedenktag hilft beim Erinnern. An das, was war. Und was für viele niemals einfach Vergangenheit sein wird. An das, was niemals mehr sein darf. An das, was immer noch nachwirkt und nicht umsonst stehen Polizisten vor jüdischen Einrichtungen, in Berlin, in Wien und anderswo. Heute, am 9. November, ist der Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome.
Gedenktag 9. November
In Wien war es damals so: „[…] Die Sturmtrupps der Nationalsozialisten toben in Wien schlimmer als in jeder anderen Stadt: Verhaftungen, Plünderungen, Demütigungen. 42 Synagogen und Bethäuser werden in der Nacht von 9. auf 10. November niedergebrannt oder völlig verwüstet. Die Feuerwehren schützen nur die umliegenden Häuser…“. (Angelika und Michael Horowitz, Verdrängen. Vergessen. Verzeihen. Erinnerungen an die dunkelste Zeit Österreichs, Wien 2008, 59) Alle Synagogen Wiens bis auf den Stadttempel der Seitenstettengasse im 1. Bezirk (dessen Innenraum allerdings verwüstet wurde, dass das Gebäude äußerlich intakt blieb, lag v.a. an der engen Bebauung und der unmittelbaren Nähe zu den Nachbarhäusern). Das Pogrom dauerte nicht nur eine Nacht, sondern mehrere Tage lang. Insgesamt 6.547 Wiener Juden kamen in Haft, knapp unter 4.000 davon in das Konzentrationslager Dachau (Quelle: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, letzter Zugriff 11.11.2025).
Geschichte, die nicht aus dem Geschichtsbuch stammt
Wie es bei euch ist, das weiß ich nicht. Bei mir ist es aber so: Dass ich von diesem Teil der Geschichte des 9. Novembers nur aus den Geschichtsbüchern weiß, das ist gar nicht wahr. Ich bin auch eine Nachfahrin. Allerdings nicht von denen, die überlebt haben und für die man Steine in den Boden, an die Häuser gelegt hat. Ich bin die Nachfahrin von denen, die gesagt haben: "Wir wussten ja nichts davon."
Die Geschichten, die ich als Kind aus dieser Zeit gehört habe, das waren andere. An die meisten erinnere ich mich nur noch vage. Weil sie keinen Schrecken verbreitet haben. Wie die Geschichte von der Königsloge in Stuttgart in der Oper, die mir meine Großmutter voller Stolz zeigte. Weil der Bruder meines Großvaters als rechte Hand des Gauleiters einmal darin einer Vorstellung folgen durfte. Oder die Geschichte des Urgroßvaters, der bei Tisch immer das erste Stück Fleisch bekam. Er war stellvertretender Ortsvorsteher in seinem Dorf in den 1940ern. Oder die Geschichte vom Kürbiskernöl, das meine Großmutter im Arbeitsdienst in Kärnten essen musste und es danach nie mehr mochte. Aber von anderem wusste man nichts. Manchmal habe ich nachgefragt. Die Antwort war meistens eher so etwas wie "Was weißt du denn schon." Und: "Wir wussten das alles nicht." Das sage ich nicht, um damit zu behaupten: Ich hätte es sicher besser gemacht. Ich weiß nicht, was meine Kinder mich später fragen werden. Die Augen zumachen und alles abstreiten, das ist kein Phänomen der Vergangenheit.
Aber als in unserer Familie drei der Urenkel meiner Großmutter jüdische Namen, Namen aus unserem sogenannten Alten Testament erhielten, da überfielen meine Großmutter dunkle Erinnerungen. Und die Namen, die wir riefen, hielten sie wach.
Auch deshalb weiß ich: Ich muss mich erinnern. Weil ich Nachfahrin bin. Weil ich verstrickt bin in diese Geschichte, die nicht meine ist und die doch meine ist. Ich muss mich erinnern: Wegen der Menschlichkeit, die auf dem Spiel steht. Der Menschlichkeit in mir drin und um mich herum. Die ich in mir brauche, um Mensch zu sein, und für die ich eintreten will. In diesem Land, in dem ich nun bin. Auch in meinem Ursprungsland. Auf dieser Welt. Damit sich etwas bewegt in mir drin und um mich herum. Damit ich die Gegenwart mit Menschlichkeit gestalten kann. Damit die Menschlichkeit eine Zukunft hat.
Die Geschichte von Petrus
Das war eine lange Vorrede. Aber es war eigentlich gar keine. Denn genau davon, von der Zukunft, die entsteht, wenn einer sich erinnert und die Schuld und die Scham nicht ausklammert, wenn sich einer erinnert und den Schmerz in sich spürt und bereut, davon erzählt mir auch die Geschichte aus dem Markusevangelium von der sogenannten Verleugnung des Petrus. Eben haben wir sie gehört.
Jesus hat Petrus angekündigt: Du wirst mich verleugnen, drei Mal, noch ehe der Hahn zwei Mal kräht. Petrus schläft in Gethsemane ein. Jesus wird gefangengenommen. Er kommt vor den Hohen Rat. Da bekennt er sich als Christus: "Ich bin’s", sagt er, und er wird zum Tod verurteilt. Petrus ist unten im Hof. Eigentlich ganz nah an den Geschehnissen in dieser Nacht. Doch er entfernt sich immer mehr. Obwohl ihm mehrere Chancen geboten werden. Drei Mal wird er nach Jesus gefragt, auf ihn angesprochen: "Du warst doch auch mit diesem Jesus aus Nazaret zusammen", sagt das Dienstmädchen. "Der gehört auch zu denen", sagt das Dienstmädchen zu denen, die dabei standen. Und die sagen dann auch noch zu Petrus: "Natürlich gehörst du zu denen! Du bist doch auch aus Galiläa." Petrus verneint: "Ich habe keine Ahnung, wovon du da sprichst." Petrus streitet ab. Und am Ende fängt er sogar an zu fluchen: "Gott soll mich strafen, wenn ich lüge! Ich kenne diesen Menschen nicht, von dem ihr redet." Vor einer ganzen Gruppe von Zeugen sagt Petrus sich von Jesus los. Nicht einmal seinen Namen nennt er. Immer mehr bringt er sich selbst in die Spirale, die ihn von dem, dem er doch so nahe war, entfernt. Immer mehr bringt er sich selbst hinein, und dann zieht es ihn hinein wie in einen Sog. Da ist Petrus nun. Gefangen in sich selbst. Verstrickt in ein Geflecht von Lügen, die ihm trotzdem niemand glaubt. Von seinem glühenden Bekenntnis wenige Kapitel zuvor ist nichts mehr übrig. Außer vielleicht der glühenden Leidenschaft, mit der er nun das Gegenteil bekennt.
Dreimal wird Petrus gefragt. Dreimal hoffen wir mit: Erinner dich doch, Petrus! Steh doch dazu! Erinner dich – an all das, was du mit Jesus erlebt hast, was du ihm zu verdanken hast, was du ihm selbst zugesagt hast: "Du bist der Christus." (Markus 8,29)
Der Hahnenschrei und die Erinnerung
Die Erinnerung kommt spät. Sie kommt, als Petrus realisiert, was da geschieht: Der Hahn kräht. Zum zweiten Mal. Petrus hört. Ganz deutlich hört er den Hahn. Da erinnerte sich Petrus an das, was Jesus zu ihm gesagt hatte. Mit einem Schrecken, so stell ich mir das vor, erinnert er sich. Mit einem Stich, der ihm in den Bauch fährt und in das Herz. Petrus hält die Luft an. Für einen kurzen Moment gibt es keinen Atem mehr in ihm. Er ist starr. Starr vor Schrecken über sich selbst.
Dann holt er Luft. Langsam und tief. Und dann geschieht etwas: Etwas fällt von ihm ab. Etwas verändert sich. Der Hahnenschrei löst Petrus’ Verstrickung. Was hart war, wird wieder weich. Was aufgestaut war, kommt heraus. Petrus erinnert sich. Und er beginnt, zu verstehen. Zu begreifen. Wieder zu fühlen. Und er bereut. Petrus war wie erstarrt. Kalt, abweisend, abwehrend. Der Hahnenschrei fährt ihm in die Glieder, und er führt zur Erinnerung: An das, was war. An den, der Petrus eigentlich ist. Petrus fängt an zu weinen. Es kann weh tun, wieder zu spüren, wer man eigentlich ist. Wieder zu spüren, wen man verloren hatte in sich drin auf dem Weg. Vor wem man davongelaufen ist. Petrus hat wieder Kontakt. Zu sich selbst, der er mit Jesus war. Daran erinnert er sich. Und er spürt die Scham über das Verleugnen. Er weint. Seine Tränen sind ein Zeichen der Lösung. Es tut weh, wieder zu spüren, wer man eigentlich ist. Reue zu empfinden über das, was man getan hat, als man das vergessen hatte. Reue über das, in das man sich selbst verstrickt hat. Petrus lässt jetzt alles an sich heran.
Der Hahnenschrei hilft zur Erinnerung. Die Erinnerung bringt die Erfahrung in die Gegenwart und hilft, neu zu begreifen und zu verarbeiten. Die Erinnerung ist der Beginn des Verstehens und der Reue. Und damit der Bewegung zu etwas Neuem.
Der Hahn hat gekräht. In der Geschichte ist es jetzt Morgen. Petrus hat angefangen zu weinen. Ihm steht noch einiges bevor. Aber er ist wieder da. Er ist wieder Teil der Geschichte, die doch auch mit ihm ihre Zukunft hat. Im Markusevangelium sagt der Engel am Grab ausdrücklich: „Macht euch auf! Sagt seinen Jüngern, besonders Petrus: Jesus geht euch nach Galiläa voraus. Dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.“ (Markus 16,7)
In unserer Geschichte beginnt Petrus zu weinen, weil er sich erinnert. Vielleicht liegt hierin die Grundlage dafür, dass die Beziehung zu Jesus am Ende nicht zerbricht. Weil in den Tränen sichtbar und spürbar wird, dass etwas in ihm in Bewegung gekommen ist.
Heute ist der 9. November. Ich weiß nicht, welcher Hahn heute schreit. Und wie die Tränen schmecken, die wir vergießen, die Tränen, die die Erinnerung wach halten, um sie in Veränderung zu wandeln.
(Diese letzten beiden Abschnitte verdanken viel dem Beitrag von Milena Hasselmann, „Vor den Tränen kommt der Hahnenschrei. Aus der Erinnerung folgt die Reue“, in GPM 79 (2025) 476–480.)
Ich will mich erinnern
Aber ich lerne von Petrus: Es braucht die Erinnerung. Nicht in der Vergangenheit. Sondern jetzt: Die Erinnerung, die mich anfasst. Die mich anrührt. Die mich bewegt. Die in mein Herz dringt und in meine Glieder wie der Hahnenschrei damals im Hof. Die Erinnerung, die uns verändert. Die mich und dich immer wieder auf den Weg bringt. Auf den Weg der Menschlichkeit. Auf den Weg der Nachfolge von Jesus, der Jude war, und der uns zum Christus geworden ist.
Und deshalb will ich mich erinnern an diesem 9. November. Damit der Schrecken mich nicht starr macht. Damit ich nicht hart werde in mir drin. Damit ich mich dafür einsetzen kann, dass diese Gesellschaft nicht noch härter wird. Damit jüdische Menschen keinen Polizeischutz mehr brauchen. Damit ich nicht sagen muss: Ich habe keine Ahnung, wovon du da sprichst.
Vielleicht zeige ich meinen Kindern die Synagoge im 1. Bezirk und erzähle ihnen von deren Geschichte. Vielleicht gehe ich morgen Abend zum Karmeliterplatz und schließe mich dem Gedenkmarsch „Light of Hope“ der Jugendkommission der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an. Vielleicht halte ich inne, wenn ich in der Reindorfgasse an den Steinen der Erinnerung vorbeigehe. Oder ich geh noch weiter bis zum Turnertempel. Ich will mich erinnern. Zugleich ist es so: Ich hoffe, wenn ich es brauche, wenn andere mich brauchen, und wenn ich dann starr bin in mir drin, dann kräht für mich ein Hahn.
Amen
66Petrus war noch immer unten im Hof. Da kam ein Dienstmädchen des Hohepriesters dazu.
67Sie sah Petrus, der sich am Feuer wärmte,
und betrachtete ihn genauer.
Dann sagte sie: »Du warst doch auch
mit diesem Jesus aus Nazaret
zusammen!«
68Petrus stritt das ab und sagte:
»Ich habe keine Ahnung,
wovon du da sprichst.«
Und er ging hinaus in den Vorhof des Palastes.
In dem Moment krähte der Hahn.
69Als ihn das Dienstmädchen dort wieder sah,
fing sie noch einmal damit an.
Sie sagte zu denen, die dabeistanden:
»Der gehört auch zu denen.«
70Aber Petrus
stritt es wieder ab.
Kurz darauf sagten dann auch die anderen,
die dabei waren, zu Petrus:
»Natürlich gehörst du zu denen!
Du bist doch auch aus Galiläa.«
71Da fing Petrus an zu fluchen und schwor:
»Gott soll mich strafen, wenn ich lüge!
Ich kenne diesen Menschen nicht,
von dem ihr redet.«
72Im selben Moment krähte der Hahn zum zweiten Mal.
Da erinnerte sich Petrus an das,
was Jesus zu ihm gesagt hatte:
»Noch bevor der Hahn zweimal kräht,
wirst du dreimal abstreiten, mich zu kennen.«
Und er fing an zu weinen.
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