Ich bin der gute Hirte
Faith Impulse
Pastorin, Erwachsenenbildung
Beschützt und geborgen
Jesus als der gute Hirte, dieses Bild löst wohl bei den meisten ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit aus. Dazu muss man nicht unbedingt mit der christlichen Bildwelt vertraut sein. Jesus als ein Hirte, der mich, sein Schaf, führt, leitet und für mich sorgt gegen Hunger und Durst. Jesus, der mich vor den brüllenden Löwen schützt und vor jeglichem Fall behütet, wie es im Lied „Solange mein Jesus lebt“ in einer Strophe heißt.
Gerade dieses Lied löste bei älteren Personen, die ich begleitet habe, viele Erinnerungen aus. Sie haben es zu Hause mit den Eltern vor dem Einschlafen oder als Familie um den Küchentisch versammelt gesungen. Oder das Lied bildete den Tagesabschluss in den Kinderwochen und Sonntagsschullagern quasi als Gegenmittel zu dem in der Nacht drohenden Heimweh. Sich durch das Singen in Erinnerung rufen, dass Jesus der gute Hirte ist, das gab ein Gefühl der Geborgenheit, auch wenn die Eltern und Geschwister weit weg waren.
Ein biblisches Bild
Jesus als der gute Hirte, dieses Bild kommt nicht erst mit Jesus in der Bibel vor. Es steht in einer langen Tradition von Bildern aus dem Alten Testament. Wir erinnern uns an Psalm 23, wo Gott, der Herr, selbst der treu sorgende Hirte ist. Er sorgt für den einzelnen Menschen, für Nahrung und Bewahrung, für Schutz und gelingendes Leben auch im finstern Tal. Die tröstenden Worte dieses Psalms haben manchen Menschen durch schwierige Zeiten begleitet.
Das Bild von einem guten Hirten betrifft jedoch nicht nur Einzelpersonen. Es hat auch eine politische Dimension. Der Prophet Ezechiel sagt es in Kapitel 34 den politischen Führern des Volkes Israel an: Wenn ihr nicht zur Führung ihres Volkes taugt, wenn ihr eure Aufgaben vernachlässigt und euch selbst statt eure Herde weidet, dann macht sich Gott selbst zum Hirten seines Volkes. Er will seine Herde nicht verkommen lassen. Er macht sich auf die Suche nach all den zerstreuten, verlorenen und verirrten Schafen.
Umsorgt und gepflegt
Jesus als der gute Hirte, dieses Bild ist ein Ausdruck dafür, dass der Mensch das Bedürfnis hat, umsorgt und gepflegt zu werden. Und das ist gut so. Wir brauchen immer wieder einmal Zeiten, wo wir uns zurücklehnen dürfen, um auszuruhen, um uns fallenzulassen, um durchzuatmen, um Kraft zu schöpfen. Wer sich verausgabt hat, braucht die Fürsorge und Pflege anderer, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
Aber so wie Jesus nicht nur der gute Hirte ist, sondern uns in einer Vielfalt von Bildern und Bedeutungen begegnet, so ist auch der Mensch nicht nur ein Wesen, das sich pflegen und umsorgen lässt. Gerade wenn wir die Entwicklung von Kindern — seien es die eigenen, die Enkelkinder oder fremde Kinder — mitverfolgen, so wird das deutlich, dass sie nicht nur anfangen zu krabbeln und sich fortzubewegen. Die Kinder stellen sich auch auf ihre eigenen Füße, sie stehen auf, tun Schritte weg von der vertrauten Umgebung hinein in ihre eigene Welt, in ihr eigenes Leben. Es ist ein ungemeiner Drang da, etwas zu begreifen, selbst anzupacken, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, erwachsen zu werden.
Die eigene Verantwortung wahrnehmen
Das Bild vom guten Hirten, es verlockt dazu, im Bereich des Glaubens unmündig zu bleiben und Verantwortung auf andere abzuwälzen. Wenn wir uns Jesus als den treu sorgenden Hirten vor Augen halten, so können wir darin alle unseren kindlichen Sehnsüchte sehen, die wir auch als Erwachsene noch in uns tragen. Er trägt uns auf seinen Armen, wenn wir schwach werden, so wie einst der Vater uns auf die Schultern genommen hat, wenn die kurzen Beine müde geworden sind beim Sonntagsspaziergang.
Aber wer sich immer auf den Schultern oder Armen tragen lässt, stärkt und übt seine Muskeln nie, um auch das Gehen zu lernen. Und dass der Hirte uns zu Futterplätzen und zum frischen Wasser führt, darin begegnet uns eine Mutter, die sich um Nahrung und ausreichendes Wachstum kümmert. Doch wer diese Aufgabe immerzu andern überlässt, lernt es nie seine Sinne zu schärfen, um selbst Futter und Wasser zu finden, um kochen zu lernen und sich selbst zu versorgen.
Ein weiteres Bild: das Lamm
So möchte ich neben das Bild von Jesus als dem guten Hirten noch ein anderes Bild stellen. Jesus, das Lamm Gottes. So stellt ihn uns Johannes der Täufer vor. Er sieht, dass Jesus zu ihm kommt und sagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ (Johannes 1,29) Das Lamm, das die Sünde der Welt trägt, Jesus, der sich für uns hingibt und stirbt, das ist ein Gegenbild zum manchmal fast allmächtig erscheinenden Hirten.
Das Lamm ist ein schwaches, ohnmächtiges Opfertier. Es kann sich nicht wehren, es hat weder Hörner noch spitze Zähne. Es wird zum Schlachten geführt und kann sich nicht gegen seinen Tod zur Wehr setzen. Jesus ist nicht nur der gute Hirte, er hat sich selbst zu einem Opferlamm gemacht. Als das Lamm Gottes hat er die Sünde der Welt weggenommen, um uns dadurch das Heil zu schaffen. So ist Jesus, das Lamm, umso mehr ein wahrer Hirte, weil er sein Leben lässt für die Seinen.
Vom Schaf zum Mit-Hirten, zur Mit-Hirtin
Damit kehren wir zurück zu unserem Text der Predigt. Denn darin unterscheidet sich der wahre gute Hirte von einem Hirten, der als bezahlter Knecht — als Mietling, also einer der gemietet wird — auf die Schafe seines Herrn schaut. Wenn der Wolf oder sonst ein Raubtier kommt, so macht sich ein solcher Knecht aus dem Staub. Der gute Hirte hingegen lässt sein Leben für die Schafe, die ihm anvertraut sind. Wo aber der Hirte zum Lamm wird und dafür sorgt, dass seine Schafe Heil und Leben erlangen, da werden die Schafe frei von der Sorge, sich um ihr eigenes Seelenheil kümmern zu müssen. Da werden die Schafe frei, selbst zu Mit-Hirten des einen großen Hirten zu werden.
Was heißt das, wenn Schafe zu Mit-Hirten werden? Wir werden dazu eingeladen, selbst Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für unser eigenes Leben und für unseren Glauben, Verantwortung in der Begleitung und Sorge um andere Menschen, Verantwortung im Dienst an dieser Welt. Gleichzeitig sind wir dazu eingeladen es einzuüben, was unsere Sorge, was unsere Aufgabe ist, und was wir getrost der Sorge und Pflege des großen Hirten überlassen können. Denn nur wenn wir uns das immer vor Augen halten, dass für das Heil von uns selbst und der uns anvertrauten Menschen schon gesorgt ist durch den großen Hirten, dass er uns erlöst hat, nur dann bleiben wir frei mit aller Kraft Mit-Hirten und -Hirtinnen zu sein.
Gemeinde als Übungsfeld
Als christliche Gemeinde haben wir hier die Chance das im Übungsfeld der Gemeinde zu trainieren. Wir können uns üben in gegenseitiger Anteilnahme und Fürsorge. Wir erfahren gegenseitige Begleitung nicht nur im alltäglichen Leben, sondern wir wachsen aneinander und miteinander auf dem Weg des Glaubens. In einer Gemeinde können wir einen Mit-Hirten finden, der eine ähnliche Situation erlebt hat und sich in uns hineinversetzen kann. Er hilft uns damit umgehen.
Oder wir leiten ein anderes Schaf aus der Herde an, in einer Frage, mit der wir uns schon seit längerem beschäftigen eine Lösung zu finden. Eine Gemeinde ist jedoch nicht nur ein Übungsfeld gegenseitiger Fürsorge. Eine Gemeinde ist ebenso auch ein Entdeckungsraum für Begabungen und Fähigkeiten. Hier kann Neues gewagt und eingeübt werden. Hier darf man sich verändern. Und darüber hinaus gibt es in einer Gemeinde Menschen, die sich mitfreuen, selbst über kleine und kleinste Schritte, die wir machen.
Drei wichtige Hinweise
Angesichts dieser vielen Möglichkeiten einander zu Mit-Hirten zu werden, sollen wir uns jedoch drei Dinge vor Augen halten, auf die uns Jesus mit seiner Rede vom guten Hirten hinweisen will.
1. Jesus ist der Hirte, wir sind Mit-Hirt*innen
Erstens: Die große Grundunterscheidung dürfen wir nicht aus den Augen verlieren: Jesus ist der Hirte, wir aber sind Mit-Hirten. Jesus hat als Lamm Gottes für unser Seelenheil und für das Heil der Seelen, die uns anvertraut sind gesorgt. Unsere Aufgabe ist es nicht, dies noch einmal zu tun. Bei aller Möglichkeit zur Übernahme von Verantwortung, die uns gegeben ist, die Verantwortung für das Heil unserer Nächsten, die können wir getrost abgeben, dafür brauchen wir uns nicht ins Zeug zu legen. Das ist schon getan und geleistet. Diese Grundunterscheidung ist uns dann eine Hilfe dazu, dass gegenseitige Fürsorge und Anteilnahme sich nicht zu gegenseitiger Bevormundung auswachsen, sondern dass jeder frei bleibt, seinen Weg zu gehen.
2. Jesus kennt mich besser als ich selbst
Zweitens: Der gute Hirte kennt die Seinen und die Seinen kennen ihn. Der gute Hirte ist es, der mich kennt. Er ist ganz für mich da. Jesus kennt mich mit meinen innersten Bedürfnissen und mit meinen tiefsten Sehnsüchten. Ihm kann ich sie zeigen, ihn kann ich hineinblicken lassen in das, was mich umtreibt und beschäftigt. Er verurteilt mich nicht, sondern nimmt mich an, so wie ich bin. Jesus lässt mir die Freiheit und den Freiraum mich zu verändern und in ihm jemand Neues zu werden. Er legt mich nicht fest auf eine Rolle. Er presst mich nicht in ein Schema oder in einen Bilderrahmen.
Denn das ist die andere Gefahr, die es neben der Bevormundung anstelle von Fürsorge gibt. Auch wenn es in einer Gemeinde viel Freiraum zur Entdeckung der unterschiedlichen Fähigkeiten und Gaben gibt: Wir stehen immer in der Gefahr einander auf Rollen und Verhaltensweisen festzulegen. Wir stehen immer in der Gefahr das Alte zu zementieren statt Neues zuzulassen. Da hilft es uns zu wissen, dass uns der gute Hirte besser kennt als jeder Mensch. Er kennt auch meine Fähigkeiten und Möglichkeiten, die noch tief in mir drin schlummern und mir selbst noch verborgen sind.
3. Die anderen Schafe
Drittens: Der gute Hirte hat noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind. Der gute Hirte ist nicht nur mein guter Hirte und er ist nicht nur der Hirte der Herde, in der ich mich gerade befinde. Der gute Hirte ist auch der Hirte so mancher Schafe außerhalb der Herde. Er sucht die verlorenen Schafe und wir als Mit-Hirtinnen und -Hirten sind eingeladen ihm dabei zu helfen. Doch wiederum gilt: Wir tragen nicht die Verantwortung dafür, dass die verlorenen Schafe nur dann Erlösung und Heil finden, wenn wir sie zu einer Herde führen und integrieren. Das ist die Aufgabe des großen Hirten. Er kennt noch Mittel und Wege, die uns verborgen bleiben. Ihm dürfen wir gerade die Sorge um diese verlorenen Schafe anvertrauen, wenn wir dabei an die Grenze unserer Kräfte kommen.
Jesus als Hirte und als Lamm
Jesus als der gute Hirte und Jesus als das Lamm Gottes. Beide Bilder schöpfen tief aus dem Reichtum der biblischen Tradition. Und selbst wenn heute niemand mehr von uns im Bereich der Viehzucht oder als Hirte tätig ist, so spüren wir doch, wie wohltuend und gleichzeitig herausfordernd diese beiden Bilder für uns sind. Jesus als der gute Hirte zeigt uns, wie Gott für uns selbst und unsere Mitmenschen sorgt.
Jesus als das Lamm Gottes lässt uns etwas erkennen von der Hingabe Gottes für uns Menschen und seiner Bereitschaft, sich für uns bis zum letzten, ja bis zum Tod einzusetzen. Wir sind eingeladen als Mit-Hirten und Mit-Hirtinnen gut füreinander zu sorgen und gleichzeitig herausgefordert, die Verantwortung für unser Heil und das Heil unserer Mitmenschen ganz dem guten Hirten zu überlassen, der uns kennt wie kein anderer. Amen.