Jesus wächst heran

Faith Impulse

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Esther Handschin

Pastorin, Erwachsenenbildung


Predigt zu Lukas 2,41-52

Der letzte Vers aus dem heutigen Evangelium hat mich aufhorchen lassen. Er klingt ganz ähnlich wie ein Satz aus der Lesung aus dem 1. Buch Samuel. Dort heißt es: „Der Knabe Samuel aber wuchs heran und gewann immer mehr an Gunst beim HERRN und auch bei den Menschen.“ (1. Samuel 2,26) Und von Jesus heißt es: „Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.“ (Lukas 2,52)

Es sieht ganz danach aus, als dass die Kindheit und Jugend des zukünftigen Propheten Samuel, der im alten Israel am Heiligtum von Silo aufgewachsen ist, zum literarischen Vorbild für die Kindheit und Jugend von Jesus wurde. Über diese Zeit im Leben Jesu erzählt uns ja nur das Lukasevangelium. Wo es keine mündliche Überlieferung gab, musste sich Lukas wohl mit anderen, ähnlichen Vorbildern behelfen. Samuel, der schon als Kind ans Heiligtum kam, wurde Beispiel gebend für Jesus. Überhaupt gibt es einige weitere Verbindungslinien zwischen den ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums und den ersten beiden Kapiteln des ersten Buches Samuel. Aber darüber werde ich nicht predigen. Das dürft ihr selbst in euren Bibeln nachlesen.

In Jerusalem hängen geblieben

Ich bleibe heute einmal bei Jesus. Er scheint zunächst ein braver Bub gewesen zu sein und die religiösen Sitten und Bräuche seiner Eltern geteilt zu haben. Jahr für Jahr hat er mit seinen Eltern die Wallfahrt nach Jerusalem zum Passafest unternommen und dort das Fest gefeiert. Doch eines Tages hat er seinen eigenen Weg gesucht.

Er ist von Jerusalem nicht mehr mit nach Hause gegangen. Er ist in dieser Stadt geblieben. Er wollte seine eigenen Erfahrungen sammeln, gerade auch in religiösen Dingen. Und damit tut sich ein klassischer Konflikt auf, den die meisten Eltern erleben, wenn ihre Kinder ins entsprechende Alter kommen. Im Teenageralter sucht sich der Nachwuchs seine eigene Peergroup, die eigenen Leute, mit denen etwas unternommen wird. Bei Jesus sind es die Lehrer im Tempel. Endlich hat er welche gefunden, mit denen er sich auf gleicher Ebene austauschen kann; die Verständnis haben für das, was ihn interessiert; wo echt die Post abgeht.

Vorwürfe der Mutter

Und seine Eltern, Maria und Josef? Der Vater hat nichts zu sagen. Er bleibt stumm und emotionslos. Er wird nicht einmal beim Namen genannt. Umso beredter ist die Mutter. Maria redet gleich für Josef mit: „Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ (Lukas 2,48) Ihre Reaktion auf das Kind, das seinen eigenen Weg geht, trieft nur so von Emotionen. Alles bezieht sie gleich auf sich, die gute Maria. Man hört nichts als lauter Vorwürfe.

Das ist eine Mutter zum Davonlaufen, höre ich innerlich die Stimme des Teenagers sagen. Kein bisschen fähig, sich in einen 12-Jährigen hineinzuversetzen, was ihn interessiert, wofür sein Herz brennt. Und gibt er ihr eine ehrliche Antwort, so begegnet sie ihm mit totalem Unverständnis. Der klassische Konflikt hat also auch die heilige Familie erreicht. Nichts von heiler Welt, wie wir sie gerne hätten. Spätestens jetzt wäre der Gang zur Erziehungsberatung angesagt oder zumindest ein Griff zum Buch: Was muss ich tun, damit mein Teenager tut, was ich will?

Ein Teenager nabelt sich ab

Doch leider funktionieren Kinder nicht nach Bedienungsanleitungen und auch nicht auf Knopfdruck. Sie sind Beziehungswesen und haben ihren eigenen Willen, schon von früher Kindheit an. Sie wollen geliebt sein, suchen nach Nähe und Bindung und doch streben sie gleichzeitig weg, in die eigene Richtung. Sie suchen ihren eigenen Weg, unabhängig von dem, was die Eltern als gut und richtig für ihr Kind befinden.

Mit zu dieser Suche gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Religiösen, mit dem ganz anderen, mit Gott. Erst die zunehmende Säkularisierung bringt das zu Tage. Da gibt es Kinder, die in ihrer Familie ohne jegliche religiöse Erziehung oder Vermittlung groß werden sind und dennoch so intensiv nach Gott fragen, dass sie damit ihre Eltern überfordern. Sie könnten dann in Fernsehtalkshows auftreten unter dem Titel: „Hilfe, mein Kind ist religiös.“

Ist der Mensch also unheilbar religiös, wie Religionskritiker gerne sagen? Hat er ein religiöses Gen, nach dem die Forscher suchen könnten? Der Teenager, der in Jerusalem geblieben ist, sagt: „Wisst ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lukas 2,49) Er spricht von dieser Religiosität, aber nicht als einer unheilbaren Krankheit oder als einem Gen, nach dem zu suchen ist.

Für ihn ist die Dimension des Religiösen geprägt von seiner Beziehung zum himmlischen Vater. Da findet er einen Ort, einen Platz für sich selbst. Da findet er eine Sache, mit der er sich nicht nur beschäftigen will, sondern richtiggehend beschäftigen muss. Dieses „muss“ zeigt die innere Logik an, die Stimme, der er folgt und bei der er das Rufen der Eltern überhört, ihre Sorgen und Vorwürfe nicht zur Kenntnis nimmt.

Welche Bilder von Gott vermitteln wir?

Vielleicht sagt einigen von euch der Name Tilmann Moser etwas. Er ist im April dieses Jahres verstorben. Er ist in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen und wurde später Psychotherapeut. Mitte der 1970er Jahre veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Gottesvergiftung“. Das hat in religiösen Kreisen viel Aufsehen erregt. Er beschreibt darin seine eigenen Eindrücke und Erfahrungen, die er mit Religion und Glaube gemacht hat. Es ist ein erdrückendes Klima, in dem er groß geworden ist. Er konnte dabei nichts von der Freundlichkeit Gottes erfahren.

27 Jahre später hat Tilmann Moser ein weiteres Buch geschrieben: „Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott. Psychoanalytische Überlegungen zur Religion“. Er beschreibt darin, dass bei den meisten Klienten, die seinen Rat gesucht haben, die religiöse Frage in der einen oder anderen Form aufgetaucht ist. Und was sich in einer breit angelegten Studie erwiesen hat, kann er durch Einzelgespräche belegen und bestätigen: Der Glaube ist der Gesundheit und psychischen Stabilität förderlich, wenn er von einem liebevollen Bild von Gott geprägt ist. Hat ein Erwachsener jedoch Gott als strafend in Erinnerung, als einen Gott, der unbedingt Gerechtigkeit einfordert, als einen Gott, der in der Erziehung als letztes Drohmittel verwendet wurde, dann wirkt sich das später noch lange und negativ aus.

In den letzten Jahren, wenn ich mich mit jungen Menschen in der Schule oder im Teenagersegnungskurs über ihre Bilder und Erfahrungen mit Gott ausgetauscht habe, ist mir das von Tilmann Moser gezeichnete negative Bild von Gott nicht mehr untergekommen. Ein Bild von Gott, der alles überwacht und dem man nicht auskommt, das ist heute zu recht aus dem Religionsunterricht und aus der Sonntagsschule verschwunden. Vielmehr wird ein Bild von Gott vermittelt, das Mut macht und stärkt, weil Gott einer ist, der für alle Menschen da ist; weil Gott einer ist, der sich besonders um die Schwachen kümmert; weil er hilft und heilt und uns freundlich zugewandt ist.

Wie kann der Glaube mitwachsen?

Etwas anderes beobachte ich aber mit mehr Sorge, wenn ich mit Menschen unterschiedlichen Alters über ihre Sichtweisen hinsichtlich Gott im Gespräch bin. Manche ihrer Vorstellungen oder Umgangsformen mit Gott sind noch genauso wie in ihren Kindheitstagen. Auch ihre Fähigkeit zu beten und mit Gott in Beziehung zu sein, gehen nicht über die Gebete aus Kindertagen hinaus. Mir scheint es, als sei ihre religiöse Entwicklung auf dem Niveau stehen geblieben, wo sie das letzte Mal an einem Schulgottesdienst teilgenommen haben. Das war oft genug im Volksschulalter. Sie haben zwar an Alter zugenommen, aber vielleicht nicht an dem, was es über Samuel und Jesus heißt, dass sie auch an Weisheit, Gnade und Gunst bei Gott und den Menschen zugenommen hätten. Wie kann das passieren?

Wenn ich auf den Prozess schaue, den Jesus durchlaufen hat und was davon in der Auseinandersetzung mit seinen Eltern durchschimmert, so scheint das Teenageralter nicht unwesentlich zu sein. Wer seine eigene Beziehung zu Gott entwickeln will, braucht die Möglichkeit, sich von den Vorgaben seiner Eltern lösen zu können. Alle Jahre wieder zum Passafest nach Jerusalem zu pilgern, alle Jahre wieder die Christvesper zu besuchen, weil es einfach dazu gehört und sonst keine weihnachtliche Stimmung aufkommen will, das führt nicht in die religiöse Eigenständigkeit. Dazu braucht es mehr.

Die eigene religiöse Identität finden

Es braucht Lehrerinnen und Lehrer, mit denen man zusammensitzen kann. Es braucht Fragen und Antworten, die herausfordern und mit denen man sich auseinandersetzen kann. Es braucht mehr als die eigenen Eltern, die eigene Familie, die eigene Gemeinde. Wer seine eigene religiöse Identität finden will, tut sich oft leichter, wenn er oder sie mit den Ansichten einer anderen Religion oder einer anderen christlichen Konfession konfrontiert wird. Das ermöglicht, danach zu fragen, was mir wichtig ist. Ich bin gefordert zu formulieren, welche Werte mir wichtig sind.

Ich weiß, dass ich heute vielleicht nicht das richtige Publikum für meine Predigt vor mir habe. Ihr steckt nicht mitten in der Pubertät. Was könnte also eure Aufgabe sein, die ihr hier vor mir seid: Menschen, die ihre religiöse Identität gefunden haben, sie pflegen und nähren, darin wachsen und reifen? Ihr seid gerade die Reibeflächen, die junge Menschen brauchen, um ihre eigene religiöse Identität zu finden. Sie merken: Da gibt es Menschen, denen ist der Glaube wichtig. Er gibt ihnen Halt und Orientierung. Ihr könnt ihnen zeigen, was euch wichtig ist, was eure Werte sind, die ihr pflegt und achtet.

Ihr könnt zu Diskussionen Anlass geben: Warum liegt das Losungsbüchlein auf eurem Nachttisch oder griffbereit bei eurem Frühstücksplatz? Warum ist euch ein Tischgebet wichtig? Was hilft euch, mit Verlusten oder Frustrationen umzugehen? Was gibt euch die Kraft, auch den Menschen freundlich zu begegnen, die euch Mühe bereiten? Welche Wege geht ihr, um euch mit denen zu versöhnen, mit denen ihr übers Kreuz gekommen seid? Warum engagiert ihr euch für andere Menschen oder setzt euch für die Schwachen unserer Gesellschaft ein? Und vielleicht wird der eine oder die andere, denen ihr antwortet eure Worte im Herzen bewahren und sie bewegen, so wie es Maria getan hat. Amen.

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