Erkennen, wie ich erkannt bin
Faith Impulse
Pastorin, Erwachsenenbildung
Mit Vielfalt und Verschiedenheit umgehen
Wir haben an den letzten beiden Sonntagen auf Abschnitte aus dem 12. Kapitel des 1. Korintherbriefes gehört. Es ging um die Verschiedenheit und wie man sie im Miteinander einer Gemeinschaft gut leben kann. Es ging um Begabungen und wie Einzelne dadurch etwas für die Gemeinschaft beitragen können. Und wir haben entdeckt, dass Vielfalt – auch unter den Kirchen – ein Weg sein kann, wie die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse gestillt werden kann.
Der Apostel Paulus nennt den Geist Gottes als einen wesentlichen Punkt für das Gelingen einer vielfältigen Gemeinschaft. Durch die Taufe ist uns als Christinnen und Christen dieser Geist nicht nur verheißen, sondern auch gegeben, ja in die Herzen gegossen. Durch die Taufe sind wir als einzelne Glieder dem Leib Christi hinzugefügt worden. So repräsentieren wir alle miteinander Christus in dieser Welt. Und der Heilige Geist hilft uns dabei, dies auch zu tun.
Der bessere Weg
Am Ende des 12. Kapitels weist Paulus auf einen Weg hin, den er den „besseren Weg“ nennt; einen Weg, der weit über das hinausführt, was er vorher an Begabungen und Fähigkeiten benannt hat. Es ist der Weg der Liebe.
Zu Beginn des sogenannten Hohen Ledes der Liebe im 13. Kapitel macht er darauf aufmerksam: Es gibt großartige Begabungen, die Menschen des Glaubens haben können. Sie können reden wie die Engel. Sie können tiefe Erkenntnisse haben und Einblicke in das Geheimnis Gottes. Sie können unglaublich großzügig sein und alles herschenken. Oder sie können das Martyrium auf sich nehmen und für das Bekenntnis ihres Glaubens sterben. Aber alle diese Begabungen laufen ins Leere, wenn die Liebe fehlt.
Was hat es denn mit dieser Liebe auf sich, die Paulus beschreibt? Manchmal kommt es mir vor, als singe Paulus von dieser Liebe, weil er sie als so großartig schildert. Es bleibt einem fast der Atem weg, wenn man das liest: „Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ (V7)
Liebe und die Überforderung
Wie kann ich diesem Ideal nachstreben ohne mich dabei selbst zu enttäuschen? Habe ich nicht schon oft genug erlebt, dass meine Liebe nicht alles trägt, dass sie nicht alles glaubt und hofft, dass die Geduld meiner Liebe allzu oft endlich ist? Habe ich nicht schon einmal gesagt: „Bei aller Liebe, aber …“ Bin ich nicht schon genug gescheitert bei meinen Versuchen Liebe zu leben, ein liebevoller Mensch zu sein?
Das Hohe Lied der Liebe ist ein großes Ideal, das uns zwangsläufig ins Scheitern führt, wenn wir ihm nacheifern. Wenn wir ständig moralische Appelle an uns selbst richten: „Um Himmels Willen, jetzt liebe doch endlich, sonst kommst du nie auf einen grünen Zweig“, dann rufen wir dabei ins Leere. Liebe schlägt fehl, wenn sie befohlen wird. „Liebe!“ im Befehlston zu sagen, das widerstrebt einem schon innerlich. Es ist als verflüchtige sich der Gehalt dieses Befehls, sobald man ihn ausspricht. Als sei die Liebe in dem Moment verschwunden, wo ich sie befehle und von mir oder von anderen einfordere.
So ist es mit der Liebe: Sie lässt sich nicht festhalten oder greifen. Sie macht sich aus dem Staub, wenn ich sie festhalten will. Sie löst sich in Luft auf, wenn ich mich an sie klammere. Wer die Liebe besitzen will, wird feststellen, dass sie sich ihm entzieht. Sie schleicht sich davon, denn sie braucht die Freiheit. Ohne Freiheit wird sie zur Fessel.
Wenn die Liebe abhanden kommt …
Gerade in zwischenmenschlichen Beziehungen kommt einem die Liebe auch gerne einmal abhanden. Wird sie nicht gepflegt, so verflüchtigt sie sich im Lauf der Jahre. Was ist bloß aus der Zeit des Anfangs geworden, wo ich die Liebe noch richtig gespürt habe, wo sie mir die Wangen gerötet hat, wo sie einen Kloß im Hals verursacht hat, wo ich dieses eindeutige Ziehen im Bauch verspürt habe? Wie komme ich dahin, dass ich die Liebe wieder spüre? Wie gelingt es mir zu lieben? Und wie gelingt es mir, meinen Hunger nach Liebe, meine Sehnsucht geliebt zu werden zu stillen?
Ja, das ist oft das einzige, was von dieser flüchtigen, sich immer wieder entziehenden Liebe bleibt: die Sehnsucht danach. Die Sehnsucht, einen Menschen zu haben, der mich richtig liebt. Die Sehnsucht ein Gegenüber zu haben, das mir entspricht. Die Sehnsucht, das bleibend zu bewahren, das festzuhalten, was nur einen Moment dauert.
… bleibt oft nur die Sehnsucht danach
Es gibt einen Vers in diesem Hohen Lied der Liebe, der für mich die Sehnsucht nach der Liebe, die Sehnsucht nach dem Geliebtwerden, die Sehnsucht nach diesem Gegenüber treffend ausdrückt. Ich werde dabei auf Gott als die Quelle der Liebe hingewiesen. Es lässt mich ahnen, dass ich bei Gott der Sehnsucht nach Liebe auf die Spur komme und dass bei ihm diese Sehnsucht gestillt werden kann.
In Vers 12 heißt es: „Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ Das überrascht. Da ist zunächst gar nicht von Liebe die Rede, sondern nur vom Erkennen. Und auch von Gott heißt es gar nichts. Es ist kein konkretes Gegenüber genannt, das ich lieben könnte. Es ist wirklich nur eine Ahnung, dass es hier um Liebe gehen könnte; dass die Sehnsucht nach Liebe etwas zu tun hat mit Erkennen und Anerkennung finden.
Was jetzt ist
Zwar heißt es nichts von Gott, aber das Jetzt und das Dann bringen uns auf seine Spur. Es gibt ein Jetzt, das davon geprägt ist, dass uns manches nur stückweise gelingt. Es gibt ein Jetzt, bei dem wir immer wieder die schmerzhafte Erfahrung machen: Was ich erreichen will, es bleibt Fragment. Was ich mir wünsche, es bleibt unerfüllt. Wovon ich träume, es lässt sich nur bedingt realisieren.
Bei allem, was mir gelingt und worüber ich mich freue, es bleibt an die Bedingungen des Jetzt gebunden. Es gibt so manches, das ich nie erfahren werde. Es gibt so manches, was andere ins Grab mitnehmen. Es gibt so vieles, was ich nie ergründen oder nachempfinden kann. Diesem Stückwerk des Jetzt steht die Vollendung des Dann gegenüber. Paulus sagt nicht, wann das sein wird. Er gibt uns keine Vorstellung, wo und wie das sein wird. Wir spüren nur seine Gewissheit: Es wird einmal sein. Dann.
Was dann kommt
Und zu diesem Dann gehören eben nicht die dunklen Bilder, die unscharfen Ahnungen, das, was kaum wahrzunehmen ist. Zu diesem Dann gehört das Erkennen. Erkennen nicht bloß als eine Tätigkeit des Intellekts. Erkennen nicht als ein besseres Wissen, das die Lücken ausfüllt, die noch offen sind. Nein, dann ist ein anderes Erkennen angesagt: ein Erkennen mit Haut und Haar, ein Erkennen bis ins Tiefste und Geheimste, ein Erkennen mit einer Klarheit bis zum Grund, der mir selbst verborgen bleibt.
Dieses Erkennen im biblischen Sinn ist das Erkennen wie einst Adam Eva erkannte und sie von ihm schwanger wurde. Erkennen heißt hier lieben, nicht nur platonisch und überhöht, sondern auch mit der Erfahrung des Leibes. Erkennen heißt hier anerkennen, nicht nur den Körper und seine Schönheit, sondern auch das Wesen und den Charakter. Erkennen heißt hier Sehen bis dahin, wo der äußere Schein vergangenen ist. Erkennen heißt hier Wahrnehmen mit dem Herzen, Annehmen des Ganzen, Lieben von Grund auf.
Erkennen und erkannt werden …
„Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen – vollkommen und ganz.“ So würden wir diesen Satz gerne zu Ende führen. Denn das Gegenteil vom stückweisen Erkennen ist das vollständige Erkennen. Dahin führt uns unsere Sehnsucht nach Liebe: Dass wir ganz lieben und ganz geliebt werden. Dass ich geliebt werde ohne Abstriche. Dass man mich gut heißt, auch mit meinen schwierigen Seiten, auch mit dem, was ich lieber verberge und verstecke. Dahin führt uns die Sehnsucht nach Liebe: Dass wir, indem wir lieben, die Erfahrung machen, ganz zu sein.
Der Satz geht allerdings anders weiter, als wir ihn von uns aus ergänzen würden: „Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ Damit rückt etwas Neues ins Zentrum. Wenn ich erkannt werde, dann muss da einer sein, der mich erkennt. Dann muss da einer sein, der mir all das gibt, wonach ich mich sehne. Dann ist da einer, der mich eben so sieht, erkennt, liebt, wie ich das erstrebe. Der mich anerkennt und annimmt wie ich bin, ohne Abstriche und ohne Bedingungen.
… schon jetzt
Da bin ich ihm nun doch auf die Spur gekommen, diesem Gott. Es geschieht überraschend und ohne, dass es auf den ersten Blick zu sehen gewesen wäre. Und da ist noch etwas anderes. „Wie ich erkannt bin“, heißt es. Das liegt nicht erst im Dann, das kommt nicht erst in der Zukunft. Wie ich erkannt bin, das beginnt schon hier und jetzt. Darauf muss ich nicht erst noch warten. Gott beginnt damit schon hier und jetzt bei mir.
Er erkennt, anerkennt mich schon jetzt als die, die ich bin. Er liebt mich schon jetzt, wenn ich bereit bin, mir diese Liebe gelten zu lassen. Er stillt schon jetzt meine Sehnsucht und mein Verlangen nach Liebe. Ich finde seine Liebe bei den Menschen, die mir nahe sind: in der Ehe, in der Familie, in den Freundschaften, die ich pflege. Gott begegnet mir in jedem Menschen, mit dem ich zu tun habe. Ich begegne Gottes liebendem Wesen in seiner Güte und Fürsorge, die er für mich hat. Dass ich mich von ihm getragen weiß; dass ich aus seiner Fülle empfangen darf; dass mir nichts fehlt oder mangelt.
„Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ Die Überraschung ist zweifach: Da erfahre ich, dass da ein anderer ist, dass da Gott ist, der das tut, wonach ich mich sehne, was ich erlangen möchte. Durch ihn kann ich mir gelten lassen, was ich anderen zur Geltung bringen will: die Liebe. Von ihm darf ich erfahren und mir genug sein lassen, was andere erfahren sollen: die Liebe.
Und das andere ist: Wonach ich mich sehne, das habe ich nicht erst in der Zukunft zu erwarten, das beginnt schon hier und jetzt. Hannelore Frank hat es so ausgedrückt:
Ich möchte gerne so sein, wie Gott mich haben will,
weil er mich so behandelt, als wäre ich schon so.
Amen.