Wer zu spät kommt …
Faith Impulse

Pastorin, Erwachsenenbildung

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Dieser Satz gehört inzwischen zum historischen Erbe eines Landes, das es nicht mehr gibt. Den Jüngeren muss ich inzwischen erklären, dass der Satz vor gut drei Jahrzehnten aus dem Mund von Michail Gorbatschow kam. Er sagte ihn als Vertreter der Sowjetunion anlässlich der Feierlichkeiten zum vierzigjährigen Bestehen der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr 1989. Gorbatschow versuchte, die politische Führung der DDR darauf aufmerksam zu machen, dass sie nicht für immer an den alten Gegebenheiten festhalten können.
Thomas kommt zu spät
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Dieser Satz könnte auch eine schmerzliche Selbsterkenntnis von Thomas sein. Denn er hat die wichtige Begegnung verpasst, die seine Jüngerkollegen mit Jesus hatten. Sie konnten ihm berichten: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Und nicht nur das. Jesus hat ihnen auch den Frieden gewünscht und sie in seinem Namen ausgesandt. Sie sind es nun, die beauftragt sind, seine Botschaft in die Welt zu tragen. Der Heilige Geist ist die gute Kraft, die ihnen dabei hilft.
Nur — für Thomas gilt das nicht. Er hat das Wiedersehen mit Jesus verpasst. Kein Wunder, dass er da nicht nur frustriert ist. Er kann gar nicht glauben, was ihm die anderen erzählen. Jesus, der noch vor wenigen Tagen tot am Kreuz hing und qualvoll sterben musste, er soll nun auf einmal wieder lebendig sein? Das sind doch Märchen, die sie da erzählen, schöne Wunschvorstellungen, nichts als Träume! Mit dem realen Leben hat das nichts zu tun. Aus der Welt der Toten ist noch keiner ins Land der Lebendigen zurückgekehrt.
Das muss ein anderer sein, der sich als Jesus da ausgibt. Das sagt sich nicht nur Thomas. Diese Erklärung gibt es bis heute. Den einen ist es zu anstößig, dass Jesus am Kreuz gestorben ist. Darum sagen sie, ein anderer sei für ihn am Kreuz gestorben und Jesus selbst sei auf wunderbare Weise gerettet worden. Den anderen ist es zu anstößig, dass Jesus auferstanden ist. Darum sagen sie, dass einer — Jesus ganz ähnlich — aufgetreten und den Jüngern begegnet sei.
Einer, der es genau wissen will
Wie auch immer: Thomas will alles genau prüfen, ob es sich auch wirklich so verhält. „Erst will ich selbst die Wunden von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen. Sonst kann ich das nicht glauben!“ (V25) Alle Sinne sollen ihm dazu helfen zu begreifen, was geschehen ist. Wenn er schon zu spät gekommen ist, dann will er sich nicht noch einen Bären aufbinden lassen: So hat er es sich fest vorgenommen.
Schneller als gedacht, kann er sich davon überzeugen. Eine Woche nach dem jüdischen Osterfest sind die Jünger wieder in Jerusalem versammelt. Dieses Mal ist auch Thomas dabei. Erneut sind alle Türen verschlossen, aber es ist, als ginge das Jesus nichts an. Plötzlich ist Jesus mitten unter ihnen und grüßt sie: „Friede sei mit euch!“ Sofort kommt er zur Sache. Jesus spricht Thomas an und fordert ihn auf, das auszuführen, was er sich vorgenommen hat: „Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an. Streck deine Hand aus und leg sie in die Wunde an meiner Seite. Sei nicht länger ungläubig, sondern komm zum Glauben!“ (V27)
Jesus nimmt Thomas beim Wort. Und nicht nur das. Am Ostermorgen in der Früh als Maria von Magdala Jesus begegnet ist, da sagte er zu ihr: „Rühre mich nicht an!“ Für Maria war es wichtig die Stimme Jesu zu hören, wie er sie bei ihrem Namen nennt.
Bei Thomas lautet die Aufforderung umgekehrt: „Leg deinen Finger hierher!“ Es ist wie die Veränderung in der Museumspädagogik. Früher durfte man alles nur anschauen, anfassen war nicht erlaubt. Jetzt sind Ausstellungen so gemacht, dass man dazu aufgefordert wird die Dinge zu berühren und auszuprobieren.
So ist es auch für Thomas. Jesus sagt: Berühre mich! Vergewissere dich, ob ich es wirklich bin. Erforsche nicht nur mit deinen Augen, wie es sich verhält. Nimm dafür ruhig auch die Finger her. Prüfe, was du nicht glauben kannst. Ich lasse dich gewähren. Ich zeige mich dir von der Seite, die es dir leicht macht das zu glauben, was dir unmöglich scheint. Jesus nimmt Thomas beim Wort und bietet ihm die Chance, seinen Glauben zu vergewissern. Es ist die zweite Chance, die er bekommt.
Der Auferstandene ist der Gekreuzigte
Thomas nimmt die Chance wahr, die sich ihm bietet. Er zögert nicht. Er findet dadurch die Bestätigung, was für ihn zur Grundlage des Glaubens wird: Jesus, der als Auferstandener vor ihm steht, das ist derselbe, der am Kreuz hing. Die Wunden der Nägelmale zeigen es: Der Auferstandene ist der Gekreuzigte. Es ist nicht ein anderer, der sich als Jesus ausgibt. Es ist Jesus selbst, den er vor sich hat. Er trägt dieselben Wunden, die die Soldaten ihm vor wenigen Tagen zugefügt haben.
So wird die Botschaft der Auferstehung für Thomas nicht nur zu einer wunderbaren Nachricht, der er Glauben schenken kann. Er erkennt darin noch etwas, was viel tiefer reicht: Zur Auferstehung gehört genauso auch das Kreuz. Zum neuen Leben gehören genau so auch das Leiden und der Tod. Der Auferstandene und der Gekreuzigte sind identisch. Das entlockt Thomas einen Satz, den nach ihm viele Menschen als ein Bekenntnis des Glaubens gesagt haben: „Mein Herr und mein Gott.“
Der Auferstandene ist der Gekreuzigte. Zur Auferstehung gehören die Wunden der Nägelmale. Ich möchte dieses Bild, wo Jesus sich dem Thomas zur Verfügung stellt und ihn in seine Wunden greifen lässt, noch ein wenig vertiefen. Wenn wir die Geschichte von Thomas hören, dann fragen wir uns: Was ist mit den Menschen, die auch ihre Zweifel haben wie Thomas, die gerne glauben möchten, aber die dafür nicht mehr in die Wunden Jesu greifen können, um sich zu vergewissern?
Wunden als Orte des Glaubens
Jesus versteckt seine Wunden nicht vor Thomas. Er zeigt sie offen. Was ihn unansehnlich macht, wo er versehrt, verwundet ist, was ihm Schmerzen bereitet hat, all das versteckt Jesus nicht. Ja, er lässt es sogar zu, dass Thomas in diese Wunden seine Finger legt, damit er glauben kann. So werden die Wunden Jesu zu einem Ort des Glaubens.
Für mich ist das ein wunderbares Bild dafür, wie Menschen zum Glauben kommen. Wunden, Verletzungen, Brüche, Risse, Fragen und Zweifel gehören zum Leben. Sie sind oft die glaubwürdigeren Berührungspunkte, um auf Gottes heilende Kraft des Glaubens hinzuweisen als die perfekten, glatten und sauberen Lebensläufe und Glaubensbiografien. Da, wo unsere verletzbaren Stellen sind; da, wo der Lauf des Lebens uns Wunden geschlagen hat; da, wo unsere Schmerzpunkte liegen; da, wo unsere Fragezeichen sind: Das sind die Berührungs- und Anknüpfungspunkte für unsere Mitmenschen.
Da können sie erkennen, dass Glauben nicht heißt, große Heldentaten zu vollbringen oder gegen jeden Unbill des Lebens gefeit zu sein. Glauben heißt vielmehr, mich Gottes Liebe anzuvertrauen da, wo ich verletzt und wund bin; da wo es mich schmerzt und ich mich schwach fühle; da, wo ich meine Fragen habe.
Vor Gott muss ich nicht die große und tapfere Heldin sein. Im Gegenteil: Bei Gott gelange ich zu jemandem, der um all das weiß. Er ist der Arzt und Heiland meiner Verletzungen. Er verbindet die Wunden, lindert meine Schmerzen und deckt mir meine Schwachstellen liebevoll auf. Menschen, die sich mit ihren Wunden Gott anvertrauen, die preist Jesus glücklich. Sie sehen nicht und glauben doch.
Natürlich braucht es Behutsamkeit und Vorsicht im Umgang mit Wunden. Das Berühren von offenen Wunden tut weh. Ein Heilungsprozess ist bisweilen anstrengend und raubt Kräfte und manchmal ist es sinnvoller zu warten, bis eine Wunde verheilt ist. Denn auch schon eine Narbe zu zeigen, ist schmerzhaft genug. Das weckt Erinnerungen, die weh tun. Oder es braucht eine zeitliche Distanz, damit man eine Narbe herzeigen kann.
Der Gekreuzigte ist auch der Auferstandene
Der Auferstandene ist der Gekreuzigte. Das bedeutet für mich nicht nur, dass Wunden zu Begegnungsorten des Heilsamen werden. Wenn der Auferstandene auch der Gekreuzigte ist, so verändert das den Blick auf das Leid und die Not der Welt. Wenn wir im Gekreuzigten auch den Auferstandenen erkennen, so kann ich in jedem Menschen, der Leid erfährt, die Züge des Auferstandenen erkennen.
Das hilft mir, mich nicht von allem Leid abzuschotten, um es in dieser Welt auszuhalten. Wo ich den Auferstandenen im Gekreuzigten sehe, da darf ich darauf vertrauen, dass die Kraft des Auferstandenen wirkt und eine neue, eine zweite Chance möglich wird. Wo ich im Auferstandenen den Gekreuzigten sehe, da kann ich darauf vertrauen, dass es mitten in Elend und Not einen neuen Anfang gibt.
Auch wer zu spät kommt, kriegt eine neue Chance
Von daher gesehen muss der Satz, mit dem ich angefangen habe, verändert werden: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Mit Ostern muss das nun heißen: „Auch wer zu spät kommt, kriegt eine neue Chance.“ Auch wer lange Zeit Abstand nimmt und sich verschließt, darf noch einmal anfangen. Auch wer Leid und Not erfährt, wer sich darum dem Gekreuzigten nahe fühlt, darf auf die Auferstehung hoffen. Auch wer mit Wunden und Verletzungen durchs Leben geht, ist deswegen nicht von Gott verworfen, sondern ist vielleicht gerade dadurch viel glaubwürdiger und fassbarer. Auch wer seine Fragen und Zweifel hat, ist deswegen nicht weniger glaubend oder Vorbild des Glaubens als wer anfechtungslos und unantastbar über allem steht.
Entscheidend ist, ob ich fähig bleibe mich berühren zu lassen oder andere zu berühren. Dabei muss ich nicht kräftigen Schrittes durchs Leben gehen. Ich kann mich durchs Leben tasten und probieren, wie es Thomas getan hat: zögernd, fragend, zweifelnd. Und ich kann stehen bleiben und staunen und mich berühren lassen von dem, wo sich Gott mir zeigt mit seinen Verletzungen und seiner Verwundbarkeit. Amen.