Das alte Lied und ein neues Gebot

Faith Impulse

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Esther Handschin

Pastorin, Erwachsenenbildung


Predigt zu Psalm 98,1 und Johannes 13,31-35, gehalten bei der Frauenfreizeit 2022

Singt ein neues Lied!

„Kantate“, so lautet der Name des fünften Sonntags in der Osterzeit nach der Tradition der evangelischen Kirchen. Kantate, singet, diese Aufforderung stammt aus dem Anfang von Psalm 98: „Singt dem Herrn ein neues Lied!“ – so beginnt nicht nur dieser Psalm. „Singt dem Herrn ein neues Lied!“ – so beginnen auch viele Vorreden zu Gesangbüchern, auch diejenige zu unserem Gesangbuch. Meist wird darin darauf hingewiesen, dass in dem neuen Gesangbuch auch neue Lieder zu finden sind – dazu macht man ja schließlich ein neues Gesangbuch. Wer glaubt, soll seine Erfahrungen mit Gott auch mit Liedern ausdrücken können. Nicht nur mit den Liedern, die vor Jahrhunderten einst neu waren, sondern auch mit Liedern, die die Sprache unserer Zeit sprechen, mit Rhythmen und Melodien, die das Tempo unserer Zeit anschlagen und die Musiktradition unserer Zeit anklingen lassen. „Singt dem Herrn ein neues Lied!“ – die Aufforderung, das neue Lied zu singen und von Gott zu erzählen, ist ein Aufruf, dem wir immer wieder von Neuem nachkommen müssen. Nicht nur, weil man die gute Botschaft Gottes immer wieder neu sagen und an die Sprache der Zeit anpassen muss. Nein, Gott selbst ist es, der zu unserem Heil immer wieder Neues schafft.

Die alten Lieder

Ein neues Lied sollen wir singen. Dazu werden wir eingeladen. Aber, was wir hören und singen, ist allzu oft ein altes Lied. „Das ist ein altes Lied“, so sagen wir, wenn jemand uns zum wiederholten Mal dasselbe erzählt. Da ist die Überbehütung einer Mutter gegenüber ihrer Tochter, die sich dafür schon zu alt fühlt: „Zieh dir was Warmes an, sonst verkühlst du doch noch.“ Doch die Ohren der Tochter sind auf Durchzug gestellt und sie geht ohne Jacke aus dem Haus.

Das alte Lied – das hörten Menschen meiner Generation, wenn der Opa oder der Onkel wieder angefangen hat die alten Geschichten aus der Zeit des Krieges zu erzählen. Wir haben versucht eine möglichst interessierte Miene aufzusetzen und gleichzeitig wegzuhören, denn interessiert haben uns diese Geschichten in keiner Weise.

Das alte Lied – es klingt uns aus dem Telefonhörer entgegen von der Freundin oder von der Schwester mit ihren Schwierigkeiten in der Ehe. Es ist die immer gleiche Leier, die wir schon in- und auswendig kennen. Vor lauter Langeweile entstehen derweil auf dem Notizzettel die schönsten Blumenmuster.

Ein altes Lied, vielleicht singen wir auch selbst so eines. Es kann ein Lied sein von einer alten Verwundung, die wir lieber immer wieder aufkratzen, statt sie verheilen zu lassen. Das alte Lied – es kann ein alter Streit sein, den wir hübsch weiterköcheln lassen, statt die Versöhnung zu suchen: Was bliebe nur, wenn wir uns darüber nicht aufregen könnten. So sind alte Lieder. Wir schätzen die vertraute Melodie. Wir kennen die Strophen alle längst auswendig. Und wir stimmen sie gerne an, weil wir doch eine gewisse Sehnsucht nach diesen uns vertrauten Tönen haben.

Ein neues Gebot

„Singt dem Herrn ein neues Lied!“ – Ich möchte diesen Aufruf und unsere Erfahrungen mit den alten Liedern, die wir hören und singen mit dem in Verbindung bringen, was Jesus in seiner Abschiedsrede zu den Jüngern gesagt hat; „Ein neues Gebot gebe ich euch: dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt.“ (Joh 13,34) 

Das neue Lied, das neue Gebot, es ist nicht neu, weil darin neue Worte, eine neue Anweisung, ein neues Handeln enthalten wäre. Das neue Gebot, von dem Jesus spricht, es ist eigentlich ein altes Gebot. Es ist das Gebot, das Gott schon seinem Volk Israel in der Wüste mit auf den Weg gegeben hat: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.“ So heißt es im 3. Buch Mose 19,18.

Das Neue am neuen Gebot

Das neue Gebot, das zugleich ein altes Gebot ist – was bringt es denn Neues, dass es Jesus seinen Jüngern so sehr ans Herz legt? Es ist ja geradezu wie ein Vermächtnis, wie ein kostbares Erbstück, das Jesus seinen Jüngern anvertraut. In dem Moment, wo Jesus zu den Jüngern spricht, da weiß er, dass er sie bald verlassen wird. Darum fasst er kurz zusammen, was ihm besonders wichtig ist, was ihm so wichtig ist, dass es seine Jünger nicht nur hören, sondern auch tun. Das neue Gebot gibt uns auf der einen Seite eine Handlungsanweisung. Es gibt uns etwas zu tun, nämlich: „Liebt einander!“ Und gleichzeitig gibt uns das neue Gebot eine Zusage, es gibt uns etwas zu hören: „wie ich euch geliebt habe“. Das neue Gebot, es enthält beides: Es weist mich an, wie ich mit meinem Nächsten in Beziehung treten kann und es zeigt mir, wie Jesus sich zu mir stellt und mit mir in Beziehung tritt. Das neue Gebot, das neue Lied, es lädt mich dazu ein, die alten Rhythmen und Melodien hinter mir zu lassen und einmal anderen Tönen zu lauschen als ich sie sonst zu hören bekomme.

Der neue Grundton der Liebe …

Ja, da liegt ein neuer Ton in der Luft, ein Grundton, auf den ich meine bisher gespielten Melodien ganz neu einstimmen muss. Dieser Grundton sagt mir: Ich liebe dich, bedingungslos und tiefer als jeder Abgrund sein kann. Ich liebe dich und bin immer da, auch wenn du es zeitweise nicht hören kannst. Ich bin es, der dir Gottes Liebe bezeugt und ich bin es, der dir Gottes Liebe zeigt. Ich bin es, der deiner Lebensmelodie einen neuen Klang gibt, der deine Grundstimmung verwandelt, damit du ein neues Lied anstimmen kannst.

Wer diesen neuen Ton hört, der fängt an sein altes Lied anders zu singen oder zu spielen. Wer seine Stimmung auf diesem neuen Grundton aufbaut, der merkt: Da ist Liebe nicht ein Befehl, den es auf Biegen und Brechen gilt auszuführen. Nein, da werde ich eingeladen mitzusingen, mitzuspielen, mitzutanzen. Da entlockt mir einer Töne, von denen ich gar nicht gewusst habe, dass sie in mir stecken.

So jedenfalls hat es einmal einer meiner früheren Chorkollegen gesagt: Ich bin überzeugt, wenn man meinen Gesang mit einem Mikrofon aufnehmen würde, einmal wenn ich meine Chorstimme ganz alleine singen und einmal, wenn ich mitten zwischen den anderen im Chor stehe, dann wird die zweite Aufnahme viel besser sein. Wenn ich zusammen mit anderen singe, dann fühle ich mich getragen durch die Musik und die Stimmen der anderen. So ist es auch mit dem neuen Gebot der Liebe: Wenn es getragen ist von diesem Grundton von Gottes Liebe, dann klingt meine Stimme ganz anders.

… verändert die alten Lieder

Wie könnten denn nun die alten Lieder klingen, wenn aus ihnen der neue Grundton zu hören ist, wenn die Grundstimmung sich verwandelt hat? Da hört die Tochter aus der Mahnung der Mutter, sie solle etwas Warmes anziehen, nicht nur ihre Angst und Überbehütung, sondern auch ihre Liebe und Fürsorge heraus. Da gelingt es, den Opa in seiner Eigenart gelten zu lassen und in seinem Erzähldrang wird erkennbar, dass er ein großes Bedürfnis danach hat, wahrgenommen zu werden und Nähe zu spüren. Das neue Lied der Liebe kann auch einmal heißen, mit der Freundin Klartext zu reden und sie damit zu konfrontieren, dass ihre alte Leier über ihre Eheprobleme eine Belastung für die Freundschaft bedeutet und dass sie sich dafür besser eine gute Ehetherapeutin sucht.

Und wie ist es mit den eigenen alten Liedern, die ich da vor mich hinsumme? Wenn ich meine eigene Melodie auf Gottes Grundton der Liebe einstimme, dann werde ich nicht mehr aus Selbstmitleid meine alten Wunden aufkratzen, sondern danach bestrebt sein, das alte Lied von Gottes Liebe verwandeln und heilen zu lasse. Wenn ich meine Lebensmelodie mehr und mehr auf Gottes Grundton der Liebe ausrichte, dann wird die Nostalgie über einen alten Streit unwichtig. Dann werde ich das Wiederholen und Herunterleiern der alten Strophen satt. Dann wage ich es, zu diesem alten Lied ein paar neue Strophen hinzuzudichten und ihm so eine neue Richtung zu geben.

… denn er tut Wunder

„Singt dem Herrn ein neues Lied!“ Singt dieses Lied von Gottes Liebe und lasst eure Lebensmelodien bewegt sein von seinem Grundton der Liebe. Dann werdet ihr noch etwas anderes entdecken. Der Psalmvers hat eine Fortsetzung, die oft weggelassen wird, wenn es um das Thema „Singen“ geht. Ich halte diese Fortsetzung aber für wichtig, wenn es um den Glauben geht. „Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“ Dass uns Gottes Grundton der Liebe bewegt und verändert, das ist das Wunder, das er zu unserem Heil neu schafft. Dass Gott mein Herz verändert, dass er seine Liebe in mich hineingießt und mich mehr und mehr fähig macht zu lieben, das weckt in mir immer wieder neu das Staunen. Dass Gott mich seine Liebe erfahren, spüren und schmecken lässt, durch seine Wohltaten und durch seine Güte, das macht mich immer wieder neu dankbar. Amen.

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