Macht hoch die Tür, die Tor macht weit

Glaubensimpuls

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Esther Handschin

Pastorin, Erwachsenenbildung


Liedbetrachtung zu EM 145 
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Mit dem ersten Advent beginnt das neue Kirchenjahr. In vielen Pfarrgemeinden wird an diesem Sonntag gerne das beschwingte Adventslied mit dem Text von Georg Weissel (1590-1635) gesungen. Er ist nicht zu verwechseln mit dem Wiener Widerstandskämpfer gleichen Namens, der von 1899 bis 1934 lebte und nach dem die Weisselgasse in Wien-Floridsdorf benannt ist.

Etwas von der Festlichkeit des Liedes spiegelt diese Aufnahme mit der Sopranistin Diana Damrau aus der Dresdner Frauenkirche wider (Str. 1.2.5).

Biblischer Hintergrund

Das Lied beginnt mit Worten aus Psalm 24,7 und 9. In der Übersetzung von Martin Luther lauten sie: „Machet die Tore und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ Zweimal wird diese Aufforderung gegen Ende des Psalms laut. Es geht um die Tore des Tempels in Jerusalem und um den Einzug Gottes, dem als König alle Macht zukommt. Auf diese Aufforderung wird jeweils gefragt: „Wer ist der König der Ehre?“ (V8a und V10a) Die Antwort darauf lautet das eine Mal: „Es ist der HERR, stark und mächtig, der HERR, mächtig im Streit.“ (V8b) Das andere Mal: „Es ist der HERR Zebaoth; er ist der König der Ehre.“ (V10b)

Dieses Frage- und Antwortspiel lässt den Schluss zu, dass Psalm 24 zu einer Liturgie am Jerusalemer Tempel gehört haben muss, bei der der Einzug des Gottes Israels gefeiert wurde, sichtbar gemacht durch das Hineinbringen der Bundeslade in den Tempel. Um sicher zu gehen, dass der richtige Gott in den Tempel einzieht, wurde eingangs gefragt: „Wer ist der König der Ehre?“ Und als Antwort wurde der Name Gottes – JHWH – HERR – genannt und was ihn ausmacht: Stärke und Macht.

Das Frage- und Antwortspiel erklingt sehr schön in der sechsstimmigen Motette „Machet die Tore weit“ von Andreas Hammerschmidt (1611-1675), die zum traditionellen Chorrepertoire für die Adventszeit gehört, hier gesungen vom Kammerchor Wernigerode.

Liturgische Zusammenhänge

Noch heute gehört im jüdischen Alltag die Rezitation von Psalm 24 zum Morgengebet am Beginn jeder Woche und zur Liturgie, die am jüdischen Neujahrsfest gefeiert wird. Allerdings ist der hebräische Wortlaut von Vers 7/9 etwas anders: „Hebet, Tore, eure Häupter, erhebt euch, Pforten der Weltzeit, dass der König der Ehre komme!“ (nach der Übersetzung von Martin Buber). Die Aufforderung zum Öffnen ergeht hier direkt an die Tore und Pforten. Sie werden angesprochen, sich aufzumachen.

Schon in der frühen christlichen Tradition wurde die Öffnung der Tore für den König der Ehre auf Christus hin gedeutet: Er kommt in diese Welt und wird Mensch indem er die Tore der Welt durchschreitet. Mit dem Tod und dem Hinabsteigen in das Reich des Todes sprengt er die Tore der Hölle, mit der Auferstehung macht er die Pforte des Todes auf. Mit seiner Himmelfahrt öffnen sich die Türen des Himmels. Und im Gericht überwindet er das Reich des Bösen.

Ebenfalls schon früh in der liturgischen Tradition des Christentums hat sich Psalm 24 mit der Geschichte des Einzugs Jesu in Jerusalem verbunden (Mt 21,1ff). Viele Adventslieder lassen sich daher auch gut am Palmsonntag singen, z.B. „Tochter Zion, freue dich“ (EM 152), „Wie soll ich dich empfangen“ (EM 147, besonders Strophe 2: „Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin“) oder „Nun jauchzet, all ihr Frommen“ (EM 150, ebenfalls Strophe 2: „Er kommt zu uns geritten auf einem Eselein“).

Die liturgische Verbindung zwischen Psalm 24 und Palmsonntag zeigt sich in der schon erwähnten Motette von Hammerschmidt in der textlichen Verbindung von Psalm 24,7-10 mit Psalm 21,9: "Hosianna dem Sohn Davids! … Hosianna in der Höhe!" Hier erklingt die Motette in der Originalfassung mit Instrumentalisten und gesungen vom Knabenchor Hannover.

Der Weg des Königs vom Land ins Herz

Der Liedtext von Georg Weissel beginnt mit dem Aufruf an die Türen und Tore, den Herrn der Herrlichkeit und den König aller Königreiche einziehen zu lassen. Dieser König wird mit dem Heiland der Welt gleichgesetzt, der als seine Gaben Heil und Leben mitbringt. In der Freude über diese Gaben erfolgt die Aufforderung zum Gotteslob, das die erste Strophe abschließt: „Gelobet sei mein Gott, mein Schöpfer reich von/an Rat!“

Die Motive des Königs und der Freude begleiten von der ersten bis zur vierten Strophe durch das Lied. In jeder dieser Strophen sind die beiden Begriffe zu finden. Das prägt den Tonfall des Liedes insgesamt. Ein weiteres verbindendes Element ist der Text der letzten beiden Zeilen der ersten vier Strophen. Sie beginnen jeweils mit „Gelobet sei mein Gott“ und führen dann mit je einem Aspekt der drei Erscheinungsweisen Gottes weiter: „mein Schöpfer“ (Str. 1), „mein Heiland“ (Str. 2), „mein Tröster“ (Str. 3). In der vierten Strophe werden dann Vater, Sohn und Heiliger Geist mit je einer Zuschreibung versehen: Der Schöpfer und Vater ist voll Rat, der Sohn und Heiland ist voll Tat und der Geist und Tröster ist voll Gnad. So erweist sich die vierte Strophe als Zusammenfassung der drei vorangehenden Strophen.

Diese engen textlichen Verknüpfungen haben dazu geführt, dass das Lied über die Jahrhunderte hinweg stets mit allen fünf Strophen überliefert worden ist. Die Herausgeber der Gesangbücher hätten mit der Streichung auch nur einer Strophe jeweils die trinitarische Grundstruktur des Liedes zerstört. In der Praxis der Gemeindegottesdienste wird jedoch aufgrund der Strophenlänge meist eine Auswahl getroffen, so auch im Gottesdienst zum 1. Advent 2014, der zur Eröffnung der Spendenaktion „Brot für die Welt“ aus der Lutherkirche in Wien-Währing auf ARD übertragen wurde.

Zurück zu den einzelnen Strophen: In Strophe zwei wird uns dieser König aller Königreiche näher vorgestellt. Statt Insignien der Macht und der Stärke werden ihm ganz andere Eigenschaften zugeschrieben: Er ist gerecht. Er hilft gerne. Sanftmut, Heiligkeit und Barmherzigkeit gehören zu seinen Eigenschaften und werden mit seinem Gefährt, seiner Krone und seinem Szepter verglichen. All das weist auf den Heiland hin, der auf einem Esel in Jerusalem eingeritten ist. In der fünften Zeile dieser Strophe findet sich der einzige negative Begriff des ganzen Liedes, um auch gleich wieder zu verschwinden: „all unsre Not zum End er bringt.“ Nach dem Ende der Not wird an dieser Stelle die sechste Zeile der ersten Strophe wiederholt: „derhalben jauchzt, mit Freuden singt“ und damit zum Lob des Heilands eingeladen, dessen große Taten gerühmt werden.

In der dritten Strophe wird es Zeit, dass der König nicht nur in der Welt empfangen wird, sondern stets ein Stückchen näher rückt: Das Land und dann die Stadt werden angeredet und können sich glücklich schätzen, wenn sie einen solchen Friedenskönig haben. Doch er will noch näher kommen: Das Wohl liegt bei den Herzen, in die dieser König einzieht. In ihnen geht dann die Freudensonne auf. Das Lob gilt am Ende der dritten Strophe dem Heiligen Geist als allezeit tröstender Kraft, von „früh bis spat“.

Der aus einer baptistischen Familie stammende Kirchenmusiker und langjährige Singwart des Christlichen Sängerbundes Paul Ernst Ruppel (1913-2006) hat – beginnend mit der fünften und sechsten Zeile dieser dritten Strophe und mit weiteren Zeilen aus der zweiten und fünften Strophe – einen Kanon geschaffen. Hier wird er von Mitarbeiter*innen der Diakonie Mitteldeutschland für den klingenden Adventskalender des Jahres 2020 gesungen, eingeleitet vom Landesbischof Mitteldeutschlands, Friedrich Kramer.

Die vierte Strophe kehrt mit ihrer ersten Zeile noch einmal zum Anfang des Liedes zurück und wiederholt sie. Doch die Fortsetzung wendet die Strophe in eine andere Richtung. Es gilt am Beginn des Advents das eigene Herz so vorzubereiten, dass es zum Tempel wird (vgl Ps 24), in den Gott einziehen kann. Zur Vorbereitung gehört ein entsprechender Schmuck. „Die Zweiglein der Gottseligkeit“ geben immer wieder Rätsel des Verstehens auf, sodass die vierte Strophe gerne weggelassen wird. Was könnte damit gemeint sein? Wohl sind es weniger die Tannenzweige, mit denen wir unsere Häuser und Wohnungen weihnachtlich schmücken. Es sind – um in der Bildwelt dieses Liedes zu bleiben – eher die Palmzweige, mit denen Jesus in Jerusalem empfangen wurde. Oder es könnte eine Anspielung auf Psalm 118,27b sein: „Schmückt das Fest mit Maien bis an die Hörner des Altars!“ wie es in der Übersetzung Martin Luthers heißt. Mit „Maien“ sind grüne Zweige gemeint oder das, was dieses ältere Wort in der Schweizer Mundart bedeutet: ein Blumenstrauß. Der Altar würde jedenfalls zum Bildfeld des in dieser Strophe schon erwähnten Tempels passen. Auf jeden Fall geht es um die Vorbereitungen zum Empfang des Königs, die mit Freude erfüllt sind. Nebst der ersten Zeile dieser vierten Strophe bezieht sich auch die sechste Zeile mit „Heil und Leben mit“ zugleich noch einmal auf die erste Strophe.

Da die vierte Strophe selten erklingt, hier eine schwungvolle Fassung mit den Strophen 1, 2, 4 und 5 mit dem Vocalkonsort Leipzig.

Eigentlich könnte das Lied aufgrund der zusammenfassenden trinitarischen Strophe mit der vierten Strophe enden. Die fünfte Strophe führt jedoch das Thema des königlichen Einzugs in das menschliche Herz aus den beiden vorangegangenen Strophen weiter. Die „Gnade“ als Stichwort am Ende der vierten Strophe wird dabei aufgegriffen. Jesus soll besonders mit seiner Gnade und Freundlichkeit einziehen. Erstmalig wird im Lied der König und Heiland bei seinem Namen genannt und direkt angesprochen: „Komm, o mein Heiland Jesu Christ“. Es ändert sich auch die Sprechrichtung. Statt dem bisher dominierenden unbestimmten Imperativ im Plural: „macht hoch, macht weit, jauchzt“ oder einem „gelobet sei“ spricht eine einzelne Person: „meins Herzens Tür dir offen ist“ und bittet um das Kommen Jesu. So beginnt diese letzte Strophe sehr innig, wendet sich aber bald wieder dem gemeinschaftlichen „uns“ zu: „dein Freundlichkeit auch uns erschein. Dein Heilger Geist uns führ und leit“. Wie für die barocke Entstehungszeit typisch wendet sich der Blick am Schluss des Liedes in die Ewigkeit und schließt mit dem Lob Gottes: "Dem Namen dein, o Herr, sei ewig Preis und Ehr!"

An dieser Stelle eine Fassung gesungen vom Gesangsquintett amarcord und mit einem Satz von Max Reger (1873-1916), aufgenommen in der Nikolaikirche Leipzig.

Der Königsberger Dichterkreis

Georg Weissel hat sein Lied 1623 für die Einweihung der neu in Königsberg (heute Kaliningrad) erbauten Altroßgärter Kirche geschrieben, wo er seine erste Pfarrstelle angetreten hat. Zu seiner Zeit war das Kirchengebäude eine kleine Kapelle, um die herum 1651 eine größere Kirche gebaut wurde. Dort erklang „Macht hoch die Tür“ erstmals an einem 2. Advent. Kaum jemand denkt heute beim Singen dieses Adventsliedes an die Einweihung einer Kirche. Die Bilder des Öffnens von Türen und Toren, der Vergleich des eigenen Herzens mit einem (Kirchen)tempel oder die Glückwünsche an das Land und die Stadt in der dritten Strophe, bei denen ein König erwartet wird, werden jedoch sprechender, wenn man den konkreten Anlass der Entstehung des Liedes kennt.

Georg Weissel wurde im Ort Domnau/Domnovo im Umland von Königsberg im damaligen Herzogtum Preußen (später Ostpreußen) geboren. Mit elf Jahren kommt er für die höhere Schulbildung und für erste Studienjahre an der Albrechtsuniversität nach Königsberg. Als Schüler muss er unter dem Hofkapellmeister Johann Eccard (1533-1611) gesungen haben, da dieser zwischen 1580 und 1608 in Königsberg tätig war. Hier einer der bekanntesten weihnachtlichen Chorsätze Eccards, das fünfstimmige „Übers Gebirg Maria geht“ mit einem Kammerensemble der Uni Jena. Der Text erzählt die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth und zitiert den Anfang von Maria Lobgesang (Magnificat) aus Lukas 1,39-47.

Von 1611 bis 1614 finden wir Weissel auf Reisen zum Studium in Wittenberg, Leipzig, Jena, Straßburg, Basel und Marburg. Zurück im Herzogtum Preußen wird er zunächst als Lehrer und Schulleiter in Friedland tätig, einem größeren Dorf im Umfeld von Königsberg. Nach drei Jahren ist er wieder in Königsberg, wohl an der Universität. Vom Dreißigjährigen Krieg, der 1618 beginnt, wird Königsberg kaum berührt. Allerdings weiß man von einem schweren Wüten der Pest im Jahr 1620. Zwölf Jahre lang, von 1623 bis zu seinem Tod 1635, wirkt Weissel als Pfarrer an der Altroßgärter Kirche.

Die Zeit um 1623/24 markiert in der deutschen Dichtkunst einen deutlich merkbaren Einschnitt. Martin Opitz (1597-1639) formuliert erstmals ein Regelwerk für deutschsprachige Poesie und veröffentlicht dieses 1624 im „Buch der deutschen Poeterey“. Rasch werden diese Regeln aufgenommen und im Unterricht an Schulen und Universitäten (vor allem im Grundstudium) weitergegeben. Ein wichtiger Vermittler und Weiterentwickler der neuen Regeln der Poetik ist August Buchner (1591-1661), der ab 1616 Professor für Poetik in Wittenberg wird. Viele Dichter der Barockzeit haben bei ihm studiert, geistliche Dichter wie Paul Gerhardt, Johann Franck, Christian Keimann ebenso als auch weltliche Poeten, deren Namen heute kaum mehr geläufig sind. Die „Anleitung zur deutschen Poeterei“ wird wohl auch Simon Dach (1605-1659) gut bekannt gewesen sein. Er kehrte nach seinen Studien in Wittenberg und Magdeburg in seine Heimat im Herzogtum Preußen zurück und war der führende Kopf des Königsberger Dichterkreises namens „Kürbishütte", der sich in einem Gartenhaus des Domorganisten Heinrich Albert (1604-1651) traf. Zu diesem Kreis von 10 bis 12 Freunden gehörten nebst Georg Weissel auch andere Dichter von Kirchenliedern wie Georg Werner, Valentin Thilo oder der Domkantor Johann Stobäus (1580-1646). Stobäus ist es, der die erste Melodie zum Lied von Georg Weissel schrieb und dieses – erst nach Weissels Tod – 1642 im „Ersten Theil Der Preussischen Festlieder“ veröffentlichte.

Dass diese kunstvolle Melodie für die Aufführung durch Chöre und nicht einer Gemeinde bestimmt war, lässt sich anhand dieser Liveaufnahme des Ensembles Vocantinuo gut nachvollziehen.

Merkmale barocker Dichtkunst

Die Neuerungen und Regeln, die um die Entstehungszeit des Liedes in die deutsche Dichtung eingeführt wurden, lassen sich auch am Text von „Macht hoch die Tür“ erkennen. Wort- und Versakzent stimmen überein, sodass das Lied nicht holprig und mit falschen Betonungen daherkommt. Die Endreime sind weitestgehend rein: weit / Herrlichkeit, Königreich / zugleich, bringt / singt, usw. Eine Ausnahme bilden die jeweils letzten beiden Zeilen einer Strophe: „Gott“ reimt sich – je nach Färbung des Vokals „A“ – nur bedingt auf Rat / Tat / spat / Gnad. Wesentlich für die Sprache in der Barockzeit ist der Schmuck, das sogenannte „Decorum“. Während in den im weltlichen Bereich gepflegten Gattungen dies manchmal überbordet, so soll der sprachliche Schmuck im geistlichen Bereich „angemessen“ verwendet werden, was in diesem Fall auf Kirchenlieder zutrifft. Dass das "Decorum" im Bereich der Kirchenlieder nur moderat eingesetzt wurde, macht es möglich, dass wir diese Lieder heute noch singen können – im Gegensatz zur oft übertriebenen Sprachgestalt der weltlichen Literatur aus dem Barock.

Zum sprachlichen Schmuck gehören Beiwörter / Adjektive, die in diesem Lied kaum zu finden sind, mehr jedoch bei einem Dichter wie Paul Gerhardt. Weissel pflegt eher einen spielerischen Umgang mit der Sprache. So gibt es neben den Endreimen auch Stabreime am Beginn der Wörter: Tor – Tür, Herr – Herrlichkeit, Gelobet – Gott. Er achtet auf gleichklingende Vokale in einer Zeile: Heiland – zugleich, gerecht – Helfer – wert. Es gibt Wortwiederholungen, die sich einprägen, z.B. am Beginn der dritten Strophe: "O wohl …, o wohl. Wohl …" Viele dieser sprachlichen Feinheiten fallen einem erst auf den zweiten Blick auf. Sie tragen aber wesentlich dazu bei, dass man die Worte gern übernimmt und ausspricht.

 

Eine neue Melodie

Wie schon festgestellt, eignete sich die ursprüngliche Melodie von Stobäus kaum für den Gemeindegesang. Die jetzige Melodie kam erst 80 Jahre nach der Entstehung des Textes zum Liedtext dazu. Sie findet sich in dem für die Kirchenliedgeschichte wichtigen Gesangbuch von Halle 1704, das Johann Anastasius Freylinghausen (1670-1739) herausgegeben hat. Freylinghausen war der Schüler, Nachfolger und Schwiegersohn von August Hermann Francke (1663-1727), dem Gründer der Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale. John Wesley (1703-1791) hat Francke auf seiner Reise nach Deutschland im Jahr 1738 besucht und einige Einrichtungen der heutigen Franckeschen Stiftungen besichtigt. Die Richtung des von Francke begründeten Halleschen Pietismus betont die Notwendigkeit einer Bekehrung im christlichen Leben. In Halle wurde aber auch großen Wert auf soziale Aktivitäten und die Bildung von Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Familien gelegt. Es gehörten eine Armenschule, ein Waisenhaus, eine Mädchenschule, eine Druckerei (Bibeln), eine Apotheke und eine Buchhandlung dazu.

Von wem die Melodie stammt, ist unbekannt. Charakteristisches Merkmal ist der 6/4-Takt mit dem steten Wechsel von leichtem Auftakt und schwerer betonter Zeit. Der Tonumfang der Melodie ist mit einer Sexte verhältnismäßig gering. Es braucht zum Singen dieser Melodie nicht so große stimmliche Fähigkeiten. Zeile 3 und 4 sind bis auf den Anfang gleich gestaltet, Zeile 5 und 6 mit dem Erreichen des Höhepunktes der Melodie sind sogar ganz identisch. Die letzten beiden Zeilen weisen von der textlichen Verslänge her nur sechs statt acht Silben auf. Musikalisch wird das ausgeglichen durch einen jeweils langen Schlusston am Ende dieser Zeilen. Dadurch dass auf dieser langen Note der zweitletzten Zeile das Wort „Gott“ zu stehen kommt, gewinnt es ein besonderes Gewicht und eine gewisse Verdichtung.

Hier noch einmal das Lied mit den Strophen 1, 2 und 5, gesungen von einem Vokalquartett der Jacobikantorei Göttingen mit einem Satz von Friedrich Silcher (1789-1860).

Das erste Lied

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ gehört in den evangelisch-lutherischen Gemeinden nicht nur aufgrund seiner liturgischen Zusammenhänge und biblischen Anklänge zum Sonntag des ersten Advents. Es ist auch das Lied, mit dem das derzeitige Evangelische Gesangbuch beginnt. Damit eröffnet das Lied nicht nur das neue Kirchenjahr, sondern lädt allgemein zum Öffnen und zum Gebrauch des Gesangbuches ein.

Falls die Lieder eines Gesangbuch nicht einfach alphabetisch geordnet sind, steht zu Beginn eines Gesangbuches meist ein Lied, mit dem die jeweilige Konfession eine für sie wichtige Aussage trifft. Die evangelischen Gemeinden von Deutschland und Österreich laden mit dem Evangelischen Gesangbuch (EG) seit 1993 dazu ein, die Türen und Tore ihrer Kirchen zu öffnen, damit Menschen dem König der Königreiche an der Krippe begegnen können. Eine Gesangbuchgeneration zuvor, mit dem Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) von 1950, war es wichtig, sich auf die Tradition zu besinnen und mit „Nun komm, der Heiden Heiland“ ein von Martin Luther übersetztes Lied an den Anfang zu stellen. Es ist das Lied, das seit dem Bapstschen Gesangbuch von 1545 viele evangelische Gesangbücher eröffnet hat und das bis heute das sogenannte Wochenlied des 1. Advents ist.

Was es mit dem ersten Lied im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche auf sich hat, wird an anderer Stelle hier zu lesen sein.

 

Das Lied in anderen Sprachen und Ländern

Es lohnt sich durchaus, einen Blick auf die Wirkungsgeschichte dieses Liedes in anderen europäischen Ländern und Sprachen zu werfen.

Schon 1694 liegt die schwedische Übersetzung „Gör porten hög, gör dörren bred“ vor, die Jakob Arrhenius (1642-1725) geschaffen hat. Er war Historiker und Rektor der Universität Uppsala. Zu dieser Zeit war das Lied noch nicht mit der Melodie aus dem Gesangbuch von Freylinghausen verbunden. So wird es heute nach einer Melodie aus dem schwedischen Choralbuch von 1697 gesungen. Früher wurde allerdings zeitweise auch die Melodie von Halle 1704 verwendet.

Auf Schwedisch klingt das Lied folgendermaßen:

Um eine Übersetzung ins Englische hat sich Catherine Winkworth (1827-1878) bemüht. Die Erzieherin für Mädchen verbrachte ein Jahr in Dresden und lernte dort die evangelischen Kirchenlieder und Choräle kennen. Sie übersetzte viele dieser Lieder und gab 1855 unter dem Titel „Lyra Germanica“ die Lieder zu den Festzeiten des Kirchenjahres heraus. 1868 folgt ein weiteres Buch mit Liedern zum christlichen Leben. Winkworth hielt sich mit ihren Übersetzungen an das vorgegebene Versmaß, sodass die Melodien übernommen werden können. Aber bei „Lift up your heads, ye mighty gates“ ist dies im United Methodist Hymnal #213 nicht der Fall. Da es zur Melodie „Macht hoch die Tür“ nicht so viele und berühmte choralgebundene Orgelstücke und Kirchenmusikliteratur gibt, wie zum Beispiel bei „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ oder „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, bestand keine Notwendigkeit, die Melodie in den englischsprachigen Gesangbüchern zu überliefern und dabei die etwas ältere Sprachgestalt der Liedtexte von Winkworth in Kauf zu nehmen. So wählte man schon 1935 einzelne Textzeilen aus der ersten, vierten und fünften Strophe aus und fügte daraus vier neue vierzeilige Strophen zusammen. Dem Lied wurde die Melodie TRURO zugeordnet.

Im Gesangbuch „Hymns and Psalms“ der britischen Methodisten von 1983 ist das Lied unter Nr. 240 ebenfalls mit der Melodie TRURO enthalten, aber mit einer anderen Zusammenstellung von Verszeilen. „Singing the Faith“, das derzeitige Gesangbuch der britischen Methodisten von 2011, enthält keine Übersetzungen von Catherine Winkworth mehr.

Hier eine familiäre Version von „Lift up your heads, ye mighty gates“ aus einer methodistischen Gemeinde der USA, die für den 1. Advent 2020 entstanden ist.

Für Dänemark und Norwegen wurde die Übersetzung von Niels Johannes Holm (1778-1845) aus dem Jahr 1829 maßgeblich. Auch er wählte als neues Versmaß die vierzeilige Hymnenstrophe mit acht Silben pro Zeile und brachte den Inhalt des Liedes in sieben Strophen unter. Holm, geboren in Dänemark, war zunächst als Lehrer tätig. Er kam in Kontakt mit der Herrnhuter Brüdergemeinde in Christiansfeld/Dänemark. Durch diese Beziehungen besuchte er einerseits Deutschland und war andererseits in England tätig, wo er in der englischen Herrnhutersiedlung in Fulneck als Lehrer unterrichtete. Von 1820 bis 1834 leitete er die Herrnhuter Brüdergemeinde in Christiania (heute Oslo), Norwegen. Danach kehrte er wieder nach Christiansfeld zurück. Das erklärt, warum Holms Übersetzung sowohl in Dänemark („Gør døren høj, gør porten vid“) als auch in Norwegen („Gjør døren høy, gjør porten vid“) zu finden ist. Als Melodie für die jeweils vierzeilige Fassung wird in beiden Ländern die Melodie aus dem Genfer Psalter von 1551 zu Psalm 134 gesungen. Sie ist im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche unter der Nr. 44 oder 505 zu finden.

Hier fünf der sieben Strophen der norwegischen Fassung aus der Petrikirche in Stavanger.

Eine Geschichte zum Schluss

Über Predigten im Internet verbreitet sich folgende Geschichte zum Lied, die vermutlich ins Reich der erbaulichen Legenden gehört:

"Ein Jahr nach der Einweihung der Kirche, 1624, soll sich Folgendes in Königsberg zugetragen haben:

Alle Leute im Stadtteil Altroßgarten freuten sich, nun eine eigene Kirche zu haben, vor allem die Bewohner im nahe gelegenen Armen- und Siechenhaus. Denn für sie war der Weg zum Dom bisher zu weit gewesen. Nur einer hatte etwas auszusetzen: der Fisch- und Getreidehändler Sturgis, der es mit kaufmännischem Geschick und zähem Fleiß zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Er hatte kurz zuvor ein Haus am Roßgärter Markt gekauft, nicht weit entfernt vom Armen- und Siechenhaus.

Dicht bei seinem Gartenzaun verlief der schmale Fußweg, den die Armenhäusler benutzten, wenn sie in die Stadt gehen oder am Sonntag den Gottesdienst besuchen wollten. Sturgis ärgerte sich über den Anblick dieser armseligen Gestalten. Er kaufte kurzerhand die lange, breite Wiese, über die dieser Pfad führte. Er machte daraus einen Gartenpark mit einem hohen Zaun darum. In Richtung Armenhaus baute er ein prächtiges Tor, verriegelt und verrammelt, und in Richtung Stadt eine kleine Pforte, für sich selbst, damit er auf dem Trampelpfad schnell zur Kirche und zur Stadt laufen konnte.

Nun war den Armenhäuslern der Weg versperrt, und der Umweg zur Kirche und zur Stadt war für die meisten von ihnen zu weit. So klagten die Bewohner des Armen- und Siechenhauses ihrem Pastor Weissel ihr Leid und baten ihn um Rat und Hilfe. Und Weissel hatte eine Idee. Als die nächste Adventszeit kam, kam auch wieder die Zeit des Adventssingens. Der Chor der Altroßgärter Kirchengemeinde hatte schon beschlossen, dass in diesem Jahr aus Protest das Adventssingen in Sturgis’ Haus ausfallen sollte. Aber Georg Weissel hatte einen anderen Plan. Sie trafen sich beim Armen- und Siechenhaus und zogen von dort zu Sturgis Haus. Auch Weissel reihte sich in den Chor ein und begleitete die Sänger. Hinterher zogen die Alten und die an Stöcken und Krücken humpelnden Siechen. Als sie bei Sturgis verriegeltem Gartentor ankamen, schaute der reiche Fisch- und Getreidehändler verduzt aus dem Fenster. Er sah, wie Weissel einen Stapel Papiere aus seinem Mantel zog. Waren das Noten? Wollten sie etwa von dort aus singen? Im Freien? Wollten sie heute nicht in sein Haus kommen und ihm die Weihnachtswünsche überbringen? Sturgis verließ das Haus und kam von innen auf das Gartentor zu, vor dem sie standen.

Dann hielt Weissel eine kleine Ansprache. Er sprach vom König aller Könige, der auch heute vor verschlossenen Herzenstüren wartet und Einlass begehrt, auch beim Kaufmann Sturgis. In diesem Augenblick begann der Chor zu singen: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit…“ Bei der zweiten Strophe griff Sturgis in seine Tasche und holte den Schlüssel zum Tor hervor und öffnete die schweren Eisenflügel. Als das Lied zu Ende war, bat Sturgis alle in sein Haus und bewirtete sie. Und Tor und Tür blieben fortan offen, für alle, auch für die Armen und Siechen. Die Königsberger im Stadtteil Altroßgarten nannten den kleinen Weg durch den Gartenpark seitdem ihren „Adventsweg“."

Se non è vero, è ben trovato. Auf jeden Fall gibt es im Internet zu dieser Geschichte auch schon ein Krippenspiel zu finden.

Aus urheberrechtlichen Gründen können hier keine Texte aus dem Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche 2002 abgedruckt werden. Dieses kann jedoch bei blessings4you bestellt werden.

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