Fürchte dich nicht, denn ich habe dich befreit. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir.
Glaubensimpuls
Pastor, Superintendent
„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich befreit. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir. Wenn du durch Wasserfluten gehst, bin ich bei dir. Reißende Ströme spülen dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, verbrennst du nicht. Die Flammen können dir nichts anhaben.“
(Jesaja 43,1b-2 Basisbibel)
Liebe Gemeinde,
Diese Worte aus dem Propheten Jesaja gehören zu meinen absoluten Lieblingstexten des Alten Testaments. Sie machen Mut und schenken Zuversicht – ganz besonders auch in herausfordernden Zeiten
Fürchte dich nicht, sagt Gott – ich lasse dich nicht im Stich! Wer hört das nicht gerne? Nicht nur jetzt, wo die nächste Welle der Pandemie heranrollt. Obwohl wir eh schon längst das Gefühl haben, dass uns das Wasser bis zum Hals steht, tun diese Worte gut.
Ein bisschen bin ich darum geneigt, diesen Text einfach so stehen zu lassen, ohne weiter etwas dazuzusagen.
Ich glaube aber, dass es sich wichtig ist, biblische Texte – ob sie uns nun gefallen oder nicht – genau zu hinterfragen und herauszufinden, wem sie ursprünglich gegolten haben und wie sie in ihrem Kontext zu verstehen sind. Und gerade auch bei diesem Text aus dem zweiten großen Teil des Jesajabuches ist das wichtig.
a) Im Kontext gelesen
Wer das Buch Jesaja, in dem wir diese Worte finden, aufmerksam liest, wird nicht übersehen können, dass dieses Buch nicht „aus einem Guss“ ist, sondern dass es offensichtlich verschiedene Teile gibt, die in unterschiedlichen historischen Situationen verfasst wurden.
Der erste Teil, das sind die Kapitel 1-39, enthält vor allem Gerichtsworte des Propheten Jesaja, die sich gegen die beiden Reiche Juda und Israel richten. Jesaja kritisiert vor allem das Verhalten der reichen Oberschicht (3); aber auch falsche Gottesdienste (1,10-17), und nicht zuletzt die sozialen Missstände seiner Zeit (5,1-25). Aber nicht nur Juda und Israel werden kritisiert, sondern auch andere Völker und deren Verhalten.
Wie viele andere Propheten kündigt Jesaja an, dass das Fehlverhalten der Israeliten und ihre mangelnde Bereitschaft, die Gebote und Weisungen Gottes zu beachten, katastrophale Folgen haben wird und letztlich zum Niedergang Israels und Judas führen wird.
Aus der Geschichte Israels wissen wir, dass es so gekommen ist: Israel und Juda werden von den Babyloniern erobert, Jerusalem und der Tempel zerstört.
Und das ist nun die historische Situation, in die der zweite Teil des Jesajabuches hineinspricht. Die Stimme des sogenannten Deuterojesaja richtet sich nicht mehr an ein freies Volk, das vor einer Katastrophe gewarnt wird. Sondern es ist an jene gerichtet, über die die Katastrophe bereits hereingebrochen ist.
Israel und Juda sind erobert, der Tempel ist zerstört, und die Überlebenden hat man ins Exil verschleppt. Alle Hoffnung auf Rettung ist zerstört.
Und mit der Hoffnung schwindet auch der Glaube daran, dass da ein Gott ist, der rettet, der Leben schenkt und dem zu vertrauen sich lohnt. Denn dieser Gott konnte den Untergang seines Volkes offensichtlich nicht verhindern. Oder er wollte es nicht.
Doch wer braucht schon einen Gott, der Unheil entweder nicht verhindern kann – oder will?!
Damit wird auch die Gefühlslage jener sichtbar, an die sich unser heutiger Text richtet: Er wendet sich an Menschen, die alles verloren haben. Ihre Freiheit. Ihre Heimat. Ihre Hoffnung. Und den Glauben an die Macht ihres Gottes.
b) Zuspruch an jene, die zu ihrer Schuld stehen
Es ist eine Gruppe völlig hoffnungsloser Menschen, an die sich dieser Prophet wendet. Und das erste, was er zu sagen hat, ist:
„Tröstet, tröstet mein Volk! Redet herzlich mit Jerusalem, sagt über die Stadt: »Ihre Leidenszeit ist zu Ende, ihre Schuld ist restlos abgezahlt. Denn für all ihre Vergehen wurde sie vom Herrn doppelt bestraft.«" (Jesaja 40,1f)
Es ist nicht ganz klar, an wen sich die Aufforderung, Trost zu spenden, richtet. Klar ist aber, was dieser Trost bewirken soll. Er soll den entmutigten und verzweifelten Israeliten Mut machen, dass ihre Leidenszeit zu Ende ist, und ein neuer Anfang bevorsteht.
Die Vertriebenen sollen Mut fassen, in ihre Heimat zurückzukehren und die zerstörte Tempelstadt wieder aufzubauen. Denn ein Neuanfang steht bevor. Darum: "Bahnt in der Wüste einen Weg für den Herrn! Ebnet unserem Gott in der Steppe eine Straße! Alle Täler sollen aufgefüllt werden, Berge und Hügel abgetragen. Das wellige Gelände soll eben werden und das hügelige Land flach. Der Herr wird in seiner Herrlichkeit erscheinen, alle Menschen miteinander werden es sehen. Denn der Herr selbst hat es gesagt." (Jesaja 40,3ff)
Es ist ein großartiger Zuspruch, der zum Handeln auffordert, ja zum Aufbruch.
Es ist ein Zuspruch, der aber auch eine Einsicht in eigene Schuld erfordert. Die Leidenszeit ist zu Ende, weil die Schuld abbezahlt hat. Dieser Logik wird nur zustimmen können, wer auch einsieht, dass er tatsächlich etwas selbst verschuldet hat.
Das Schuldeingeständnis ermöglicht aber auch eine Antwort auf die Frage, ob Gott die gegenwärtige Katastrophe, nicht verhindern konnte oder nicht verhindern wollte.
"Für all ihre Vergehen wurde sie vom Herrn doppelt bestraft." Das impliziert nicht nur, dass der Prophet die Katastrophe als eine Konsequenz des Fehlverhaltens Israels ansieht, sondern dass er auch der Meinung ist, dass Gott sie hätte verhindern können; ja dass Gott sie sogar erst ermöglicht hat.
Genau darauf baut aber auch seine neue Hoffnung auf:
„Wer hat Jakob der Plünderung preisgegeben und Israel denen, die Beute machen? War es nicht der Herr, gegen den wir gesündigt haben, und auf dessen Wegen sie nicht gehen wollten, und auf dessen Weisungen sie nicht gehört haben?“
Gott hat nicht nur zugelassen, dass Nebukadnezzar, der König von Babylon, die beiden Reiche Juda und Israel erobert. Nein, er hat es überhaupt erst ermöglicht.
Genau deshalb wird es Gott also auch nicht schwer fallen, diesen Tyrann wieder vom Thron zu stoßen. Und genau das steht jetzt bevor!
"Jetzt aber spricht der Herr, der Jakob geschaffen und sein Volk Israel gebildet hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich befreit. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir. Wenn du durch Wasserfluten gehst, bin ich bei dir. Reißende Ströme spülen dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, verbrennst du nicht. Die Flammen können dir nichts anhaben."
Die Schuld ist restlos bezahlt, und einem Neuanfang steht nichts mehr im Weg. Auch nicht die Gefahren, die mit der Rückkehr der Israeliten aus Babylon nach Jerusalem verbunden sind.
Doch die vertriebenen Israeliten müssen für diesen Neuanfang erst gewonnen werden. Entsprechend resigniert klingt die erste Reaktion auf diese Trostbotschaft:
„Alle Menschen sind doch wie Gras. In ihrer ganzen Schönheit sind sie doch wie die Blumen auf dem Feld. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Wind des Herrn darüberweht. Nichts als Gras ist das Volk!" (Jesaja 40,6-8)
Die Hoffnung muss erst wieder geweckt werden, damit die Bereitschaft zum Aufbruch wachsen kann. Und so ringt Gott förmlich um das Vertrauen seines Volkes:
"Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Ich hole deine Nachkommen aus dem Osten herbei und bringe sie aus dem Westen zusammen. Zum Norden sage ich: Gib sie heraus! Und zum Süden: Halt sie nicht zurück! Meine Söhne sollen aus der Ferne kommen, meine Töchter von den fernsten Winkeln der Erde." (Jesaja 43,5ff)
Ich tue das, denn "Du bist kostbar und wertvoll für mich, und ich habe dich lieb." (Jesaja 43,4)
c) Der Zuspruch geht mit einer Aufgabe einher
Ich habe dich lieb, sagt Gott seinem Volk. Doch es ist mit meiner Liebe und dem damit verbundenen Neuanfang auch eine Aufgabe verbunden.
Gott will einen Neuanfang schaffen, aber nicht, damit alles wieder so wird, wie es vorher war: Die Reichen herrschen über die Armen und die Starken über die Schwachen, und um Gerechtigkeit, Güte und Solidarität schert man sich einen Dreck.
Sondern Gott will einen Neuanfang schaffen, der seinem Heilswillen entspricht: und zwar für die ganze Welt.
Als Volk Gottes sollen die Israeliten der Gerechtigkeit Gottes entsprechend leben, zu ihrem eigenen Wohl. Aber auch, weil sie so den Völkern ein Vorbild sein sollen.
"Ihr seid meine Zeugen, sagt der Herr zu Israel. Ihr seid der Knecht, den ich erwählt habe."
Ihr sollt meine Zeugen sein dafür, dass mein Weg ins Leben führt, und dass der, der sich auf meine Weisung verlässt, nicht auf Sand gebaut hat.
Dazu habe ich euch erwählt, als meine Diener – oder, wie es Jesaja formuliert: als mein Knecht.
"Ihr seid meine Zeugen, sagt der Herr zu Israel. Ihr seid der Knecht, den ich erwählt habe."
Damit sind wir bei einem zweiten Bild, das sich durch den ganzen zweiten Teil des Jesajabuchs zieht. Das Bild des sogenannten Gottesknechts:
„Seht, das ist mein Knecht, zu dem ich stehe“, heißt es in Jesaja 42. „Ihn habe ich erwählt, und ihm gilt meine Zuneigung. Ich habe ihm meinen Geist gegeben. Er sorgt bei den Völkern für Recht. Er schreit nicht und ruft nicht laut. Seine Stimme schallt nicht durch die Straßen. Ein geknicktes Schilfrohr zerbricht er nicht. Einen glimmenden Docht löscht er nicht aus. Er bleibt seinem Auftrag treu und sorgt für Recht. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht durchgesetzt hat. Sogar die fernen Inseln warten auf seine Weisung.“
Jesaja spricht hier vom Knecht zwar im Singular. Gemeint ist aber nicht eine Einzelperson. Sondern gemeint sind alle, die den Neuanfang mit Gott wagen und sich von ihm in Dienst nehmen lassen. Alle, die einen Neuanfang des Gottvertrauens wagen.
Alle, die bereit sind, Gottes Weisungen zu folgen, seinem Recht entsprechend zu handeln und nach seiner Gerechtigkeit und Güte zu leben.
Wer so lebt, wird für Recht sorgen, ohne mit lauter Stimme herum zu schreien und andere klein zu machen. Wer so lebt, wird das geknickte Schilfrohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen – d.h. er wird Schwache schützen und Scheiternden wieder auf die Beine helfen.
Und sein Recht wird sich durchsetzen, weil es überzeugend und anziehend ist: Sogar die fernen Inseln warten auf seine Weisung. Darum wird er nicht müde und gibt nicht auf, bis sich Gerechtigkeit auf der Erde durchgesetzt hat.
Dafür will ich euch in Dienst nehmen, dafür sollt ihr meine Zeugen sein. So sollt ihr Licht der Welt sein.
Dies ist die Aufgabe, die mit dem Zuspruch einhergeht: „Fürchte dich nicht – ich bin immer bei dir.“
Gott ruft dazu auf, die Entmutigten zu trösten und den Hoffnungslosen neue Hoffnung zu schenken. Doch seine Ermutigung bezieht sich explizit darauf, das Experiment des Vertrauens zu wagen: Vertraut mir, d.h. vertraut auf meine Weisungen, meine Gebote. Lasst euch auf den Weg ein, den ich euch weise. Und seid getrost: Wenn ihr diesen Weg geht, lasse ich euch gewiss nicht im Stich. Selbst wenn dir das Wasser bis zum Hals steht, wirst du nicht untergehen. Und das Feuer, durch das du gehst, kann dich nicht verzehren.
d) Gilt der Zuspruch also auch mir?
Wie ist es also nun mit diesem wunderschönen Text, der so viel Hoffnung macht? Darf ich mich hier einfach mitgemeint fühlen und die Worte ohne weiteres auf mich beziehen?
Eines ist auf jeden Fall klar. Wie so oft sollte man auch diesen Text nicht einfach aus dem Zusammenhang reißen. Dann besteht nämlich die Gefahr, nur zu hören, was mir gefällt. Und dann bleibt ein plumpes „Ich kann eh machen, was ich will: Gott ist bei mir, deshalb wird mir schon nichts passieren“ übrig. Das wäre nicht nur zu billig. Es wäre vielmehr der Versuch, mich über Gott zu setzen und Gott zu meinem Diener zu degradieren, der mich und meine Interessen schützen soll. Ein Gott also, der mir dienen soll, anstatt ich ihm.
Doch wenn ich diesen Text in seinem Kontext höre und ernst nehme, dass der Zuspruch sich auf eine Aufgabe bezieht – die Aufgabe, mich von Gott in Dienst nehmen zu lassen, dann darf ich ihn sehr wohl auf mich beziehen. Ja, ich glaube, dann gilt dieser Ruf uneingeschränkt auch uns: Lasst euch ein auf einen Neuanfang mit Gott!
Auch – ja vielleicht sogar: gerade – wenn ihr euch entmutigt fühlt und euch fragt: Wo ist denn mein Gott? Gott hat sich in der Geschichte immer wieder erwiesen als der, der Neuanfänge ermöglicht. Warum sollte er es nicht auch jetzt tun?
Überseht dabei aber nicht, was das Ziel dieses Neuanfangs ist: Es geht darum, den Weg des Vertrauens auf Gottes Weisungen zu gehen, damit seine Gerechtigkeit und Güte für alle Welt sichtbar wird. Und damit auch seine Macht.
Habt Mut, und fasst neuen Mut. Mut, der sich darin zeigt, dass ich mein Leben nicht für mich, sondern für andere lebe. Dass ich bereit bin, für Recht und Gerechtigkeit einzustehen, selbst wenn anderes bequemer wäre. Und dass ich – im Sinne Gottes – Güte, Barmherzigkeit und Mitgefühl anderem voranstelle.
Wer so lebt, steht natürlich nicht wie unter einem Zauber, sodass ihm nichts passieren könnte. Und dennoch dürfen wir dann getrost die Zusage Gottes hören:
„Wenn du durch Wasserfluten gehst, bin ich bei dir. Reißende Ströme spülen dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, verbrennst du nicht. Die Flammen können dir nichts anhaben. Denn ich bin der Herr, dein Gott. Ich bin der Heilige Israels, der dich rettet.“
Amen
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PS: Manche werden sich vielleicht gefragt haben, ob mit dem Gottesknecht nicht doch eigentlich eine ganz bestimmte Person gemeint ist. Jesus nämlich, von dem es auch im Evangelium heute geheißen hat: „Du bist mein geliebter Sohn; an dir habe ich Wohlgefallen.“
Es gibt tatsächlich gute Gründe, warum die Christinnen und Christen Jesus mit diesem Gottesknecht in Verbindung gebracht haben. Doch das ist das Thema für eine eigene Predigt. Und die habe ich mir vorgenommen am nächsten Sonntag zu halten.
Amen
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Alle Bibeltexte sind der Basisbibel, veröffentlicht von der Deutschen Bibelgesellschaft, entnommen.
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