„Werden wir je wieder zusammenfinden?“
Glaubensimpuls
Pfarrer i.R. (Baptist)
Am Mittwoch der vergangenen Woche (26.01.2022) brachte der ORF ein Spezial mit dem Titel „Wenn der Impfstreit Familien spaltet“. Der Programmtext dazu bietet sich an zur Einleitung für die heutige Predigt. „Freunde, die den Kontakt abbrechen, Familienmitglieder, die nicht mehr miteinander sprechen, Paare, die sich entfremden. Die Corona-Impfung lässt sogar im engsten Umkreis tiefe Gräben entstehen. Wie konnte es nur so weit kommen? Betroffene erzählen, wie sich der Streit mit geliebten Menschen für sie anfühlt.“
Werden wir je wieder zusammenfinden? – Das fragen sich viele auch im Blick auf Kirchen und Gemeinden. Treue Mitglieder, Pfarrer und Pastorinnen mühen sich, in der Belastungssituation den Karren des Gemeindelebens irgendwie am Laufen zu halten. Und es macht ihnen das Leben sehr schwer, wenn sie mitbekommen, wie manche innerlich oder äußerlich dabei sind, sich zu verabschieden.
Anders als etwa die Flüchtlingskrise, die uns zusammengeschweißt hat, dividiert uns die Pandemie auseinander. Werden wir je wieder zusammenfinden?
In der Geschichte der Christenheit sind wir nicht die ersten, die diese Frage stellen. Seit der ersten Generation wird gestritten. Und es gibt zumindest ein Beispiel für eine verfahrene Situation, in der sich zwei Lager so entfremdet haben, dass sie nicht mehr miteinander reden und nicht mehr glauben konnten, dass die anderen überhaupt ernsthaft gläubig sind.
Es geht um die Gemeinde in Rom. Den Text haben wir gehört.
Anders als sonst mischt sich Paulus nicht in der Weise ein, dass er mit theologischen Argumenten das eine als richtig und das andere als falsch herausstellt. Hier entwirft er das Modell eines Weges zurück zur Einigkeit, auf dem nicht die eine Seite gewinnt und die andere zähneknirschend ihre Niederlage eingestehen müsste.
Worum geht es in der römischen Gemeinde?
Zwei Gruppen werden uns vorgestellt. Beide wollen ihren Glauben authentisch leben. Jede Seite fasst sich an den Kopf und kann nicht begreifen, wie die anderen sich nur so verhalten können. Gegenseitige Verachtung und Verurteilung vergiften den Boden, auf dem man früher freudig aufeinander zugegangen ist und sich für gemeinsame Anliegen eingesetzt hat.
Paulus nennt zwei Streitpunkte. Von der Sache her sind sie für uns längst nicht mehr aktuell. Aber die Emotionen, die dabei ins Spiel kommen, kennen wir gut.
Erster Streitpunkt: Sollen Christen nach altehrwürdiger Tradition den Sabbat als ewige Ordnung Gottes heiligen. Das erregt in der Gesellschaft Aufmerksamkeit und bringt Nachteile in Gesellschaft und Beruf. Aber das ist es den einen wert. Wird dabei nicht sichtbar, wie opferbereit man zur Ehre Gottes ist? – So fragten die einen. Die anderen sagten: Jeder Tag ist heilig, wenn wir ihn zur Ehre Gottes und in Liebe zu den Menschen leben.
Zweiter Streitpunkt: Dürfen Christen Fleisch essen, wenn man auf dem Fleischmarkt nie sicher sein kann, ob das Fleisch aus säkularer Schlachtung oder aus Restbeständen von Vereins- oder Zunftfesten stammt, bei denen üblicherweise fremden Göttern geopfert wurde.
Nein, entscheiden die einen, kein Fleisch. Wir lassen uns gleich gar nicht auf eine Grauzone ein, sondern leben nach klaren Linien. Die anderen sagen: Es gibt nur den einen wahren Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Der hat alles erschaffen und wir können jegliche Speisen mit Danksagung genießen, ohne penible Nachforschungen. Christus ist der Herr und stellt alles andere in den Schatten.
Jede Seite ist also überzeugt, alles zur Ehre Gottes und als Zeugnis für Christus zu machen. Und doch empfindet jede Seite, die andere falle ihnen in den Rücken.
Worum geht es bei uns?
Diese Gefühle sind nicht unähnlich denen, die im Impfstreit auch unter Christinnen und Christen entstehen. Denn auch da werden auf beiden Seiten Argumente des Glaubens in die Waagschale geworfen.
Die einen sagen: Jetzt sind wir herausgefordert, Stellung zu beziehen und sichtbar zu machen, dass wir keine Angst haben. Sagt nicht der Auferstandene in Mk 16,17-18: „Wenn sie tödliches Gift trinken, wird ihnen nichts passieren.“ Ist etwa das Virus nicht das Gift, das uns Christen nichts anhaben kann? Gott ist unser Schutz und Schirm, nicht die Impfung!
Oder: Haben wir als Kinder Gottes nicht das Recht, ja, die Pflicht, frei heraus zu reden und mit den Aposteln zu sagen (Apg 4,20): „Wir können's ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben“. Wir lassen uns keinen Maulkorb verpassen! – Warum sind die meisten unserer Mitchristen so unterwürfig und tun brav, was man ihnen sagt?
Die anderen sagen: Gerade als christliches Zeugnis und aus christlicher Liebe wollen wir alles mittragen, was die Gesellschaft aus dieser Plage herausführt und drücken damit unsere Rücksichtnahme und Solidarität mit besonders Gefährdeten, mit Ärzteschaft und Pflegekräften aus.
Nun könnten wir uns ausmalen, wie auch unter Christinnen und Christen die Argumente hin und her fliegen. Aber damit kommen wir auf keinen grünen Zweig. Paulus jedenfalls entscheidet im Blick auf die Gemeinde in Rom anders und nennt drei Schritte, wie die Gemeinde wieder zusammenfinden kann.
Drei Schritte
1. Die gemeinsame Berufung muss wieder ins Zentrum unserer Leidenschaft rücken
„Im Reich Gottes geht es nicht um Fragen des Essens und Trinkens, sondern um das, was der Heilige Geist bewirkt: Gerechtigkeit, Friede und Freude.“
Das Kernproblem in Rom und für uns ist doch, dass das Feuer in den Bereichen lodert, über die man sich streitet. Es erhitzt uns, anstatt uns zu erwärmen. Das Miteinander kühlt ab.
Hier setzt Paulus an: Euch darf nicht länger das in Hitzewallungen versetzen, worüber ihr streitet, sondern das „Reich Gottes“.
Der Apostel baut hier auf die Aussage seines Herrn Jesus Christus: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“ In den Wachstumsgleichungen veranschaulicht er, dass die Gottesherrschaft als eine fermentierende Kraft diese Welt durchdringt, so wie Sauerteig den großen Bottich voll Mehlbrei.
Die christliche Gemeinde soll ein Hotspot dieser Wirkkräfte sein.
- Jesus sagt (Joh 13,35): „An eurer gegenseitigen Liebe werden alle ablesen können, dass ihr meine Jünger seid.“ Die Liebe beglaubigt die Echtheit unserer Nachfolge und die Wahrheit dessen, an wen und an was wir glauben.
- Zudem ist die Gemeinde ein Zuhause für uns Christinnen und Christen. Nur so ist der Segenswunsch verständlich: „die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen“. Sie steht in einer Reihe mit der Gnade Christi und der Liebe des Vaters. Wir brauchen dieses Zuhause, wo sich das Beste in uns entwickeln kann.
- Und noch ein Aspekt: Schon früh wurde die christliche Gemeinde mit der Herberge verglichen, in die der barmherzige Samariter den Verletzten brachte. Bei Jesus, in seiner Herberge, finden verwundete, entkräftete, orientierungslose Menschen Aufnahme, werden gesund gepflegt, beginnen aus der Liebe Gottes und der Glaubensgeschwister ihre Kraft zu ziehen, finden Versöhnung und lernen das Leben im Sinn Christi neu.
Wenn diese Qualitäten durch Streit und Lagerdenken kaputtgemacht werden, kann die christliche Gemeinde ihre Bestimmung nicht mehr erfüllen!
Der gemeinsame Auftrag muss wieder ins Zentrum unserer Leidenschaft rücken.
2. Wir müssen aufhören mit gegenseitigem Verurteilen und Verachten!
Paulus sagt nicht, dass alles, was uns trennt, belanglos sei. Im Gegenteil: „Glücklich schätzen kann sich, wer so handelt, wie es seiner oder ihrer Überzeugung entspricht, und sich nicht selbst verurteilen muss.“
Aber wenn die Gottesherrschaft am wichtigsten ist, dann müssen die anderen Dinge herabgestuft werden. „Das Gute, das euch geschenkt wurde, darf nicht in Verruf kommen.“ Und wo Christinnen und Christen sich gegenseitig verachten und verurteilen, kommt das Evangelium in Verruf. Darum: „Hören wir also auf, uns gegenseitig zu verurteilen! Seid vielmehr kritisch gegen euch selbst, wenn ihr euch im Glauben stark fühlt, und vermeidet alles, was einem Bruder oder einer Schwester Anstoß bereiten oder sie zu Fall bringen kann.“
- Fest werden in den eigenen Überzeugungen…
- den oder die Andersdenkende nicht verurteilen und verachten…
- selbstkritisch bleiben…
- den oder die auf der anderen Seite an Christus abgeben, damit man Kopf und Hände frei bekommt für Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist…
… das ist eine anspruchsvolle Haltung. Aber Paulus mutet das den römischen Christinnen und Christen zu und traut es ihnen zu, und er mutet und traut es auch uns zu.
Wir müssen aufhören mit gegenseitigem Verurteilen und Verachten!
Und damit sind wir beim dritten und letzten Schritt:
3. Wir müssen das Unsere dazu tun, damit wir wieder zusammenzufinden
„Wir wollen uns mit allen Kräften für das einsetzen, was dem Frieden und dem Aufbau unserer Gemeinschaft dient.“
Das erfordert emotionale Disziplin und Anstrengung von allen Beteiligten.
- Paulus gibt die Anweisung: „Behandle das, was du im Glauben für richtig hältst, als eine Sache zwischen dir und Gott.“
Für uns wird das bedeuten, dass wir Provokationen vermeiden, nicht unter Gleichgesinnten die Köpfe zusammenstecken und halblaut tuscheln, was den Streit wieder aufflammen lassen könnte.
- Eine zweite Anweisung lese ich aus dem folgenden Satz heraus: „Gott hat den Andersdenkenden doch genauso angenommen wie dich. Es liegt allein im Ermessen seines Herrn, ob er mit seinem Tun besteht oder nicht.“
Wenn der Herr selbst sich um die kümmert, die ich nicht mehr verstehe, können wir ihn oder sie nicht in möglichst schlechte Schablonen pressen: „Ach, du bist auch eine von denen, die Pflegekräfte anpöbeln. Ach, du gehörst auch zu denen, die Hassmails herumschicken."
Nein, wir wollen ernstnehmen, dass jeder und jede die eigene Art und das eigene Maß bestimmen darf, wie er z.B. seine Ablehnung oder sie ihre Unterstützung in der Impffrage ausdrückt. Und wir müssen es einander zutrauen, dass sie ihre Haltungen vor Christus prüfen und sich von ihm korrigieren lassen.
Ein letztes – ganz kurz:
- Wir müssen es einander leicht machten, aus der Ecke herauszukommen, in die sich jemand verrannt hat.
Mehr als alles andere verhindert verletzter Stolz, dass man die Meinung ändert, geschweige denn, es zuzugeben. Wir wollen still und taktvoll die Türe offenhalten. Niemand muss zu Kreuze kriechen.
Wir müssen das Unsere dazu tun, damit wir wieder zusammenzufinden.
Werden wir je wieder zusammenfinden?
Auch auf dem Weg von Römer 14 haben wir dafür keine Garantie. Denn es kommt immer auf alle Beteiligten an. Nur von einer Seite aus kann man den Riss in einer Gemeinschaft nicht schließen.
Aber das Ziel ist erreichbar und wir haben dabei jede Hilfe von oben. Der Weg erfordert eine von Liebe und Weisheit gesteuerte Disziplin der Gefühle und Worte und erfordert Beharrlichkeit im Blick auf das Ziel: „Wo die Wirkkräfte und der Geist Gottes herrschen und sich im Zusammenleben durchsetzen, geht es nicht mehr um Streitfragen und Abgrenzungen, wie wir den Glauben am besten ausdrücken. Da geht es darum, dass wir gut und richtig miteinander umgehen und Gott uns durch seinen Heiligen Geist mit Frieden und Freude erfüllt.“
So bleiben wir, und werden wieder, zukunftsfähig als Werkzeuge in Gottes Hand für die großen Aufgaben, die sicher noch vor uns liegen.
Amen