Die Erde gehört Gott, nicht uns Menschen
Glaubensimpuls
Pastor, Superintendent
Die Kirchen des Ökumenischen Rats der Kirchen begehen den Monat September als Schöpfungszeit. Dieser Glaubensimpuls beinhaltet Elemente aus einem Gottesdienst zur Schöpfungszeit: Psalm 24; die Klagen von Boden, Wasser und Baum; und eine Predigt zu Psalm 24, die ermutigen möchte.
Die Erde ist des Herrn
Dem Herrn gehört die Erde mit allem, was sie erfüllt.
Ihm gehört das Festland mit seinen Bewohnern.
Denn über dem Meer hat er die Erde verankert,
über den Fluten der Urzeit macht er sie fest.
Wer darf hinaufziehen zum Berg des Herrn
und wer darf seinen heiligen Ort betreten?
Jeder, der mit schuldlosen Händen
und ehrlichem Herzen dort erscheint!
Jeder, der keine Verlogenheit kennt
und keinen Meineid schwört.
Wer das tut, wird Segen empfangen vom Herrn
und gerecht gesprochen von Gott, der ihm hilft.
Dies ist die Generation, die nach ihm fragt:
Sie suchen dein Angesicht, Gott Jakobs.
Ihr Tore des Tempels, seid hocherfreut!
Ihr Türen der Urzeit, öffnet euch weit!
Es kommt der König der Herrlichkeit!
Wer ist der König der Herrlichkeit?
Es ist der Herr – er ist stark und mächtig!
Es ist der Herr – er ist machtvoll im Kampf!
Ihr Tore des Tempels, seid hocherfreut!
Ihr Türen der Urzeit, öffnet euch weit!
Es kommt der König der Herrlichkeit!
Wer ist der König der Herrlichkeit?
Es ist der Herr der himmlischen Heere.
Er ist der König der Herrlichkeit! Sela.
Klagegebete zur Schöpfungszeit
Der BODEN klagt
Ich wurde zugedeckt! Nicht mit einer weichen Schneedecke, nicht mit buntem Herbstlaub, sondern mit etwas Hartem und Undurchdringlichem, das mich von Wasser und Luft abgeschnitten hat. Die Menschen nennen es Asphalt.
Seit man mich zugedeckt hat, bin ich immer härter geworden. Immer weniger Regentropfen können in mir versickern. Nur noch Fremde, wie Betonbrocken und Kunststoffsplitter finden immer öfter ihren Weg zu mir herunter.
Seit man mich zugedeckt hat, bin ich immer leerer geworden. Früher hatte ich viele Gäste. In nur einem Quadratmeter Boden lebten Hunderttausende bis Millionen von Bodentieren: Regenwürmer, Asseln, Milben und Insektenlarven. Auch Pilze und Algen fühlten sich wohl und Bakterien gab es hier mehr als Sterne im All.
Seit man mich versiegelt hat, gehen meine Bewohner zugrunde. Es wird einsam hier unten. Einen Regenwurm habe ich schon lange keinen mehr gesehen.
Sehnsüchtig denke ich an die alte Zeit zurück und bitte euch: Lasst mich frei!
Ich bin es, euer Boden!
Das WASSER klagt
Mir verdankt die Erde ihren Namen: Den ,,blauen Planeten“ nennt ihr ihn. Ihr sagt, ich bin ein Menschenrecht; ihr sagt, ich bin Leben. Doch von eurer Hochachtung merke ich wenig. Die meisten erachten mich als Selbstverständlichkeit. Täglich komme ich zum Einsatz! Ihr braucht mich zum Trinken, ihr braucht mich zum Kochen, zum Duschen und für die Waschmaschine. Mit mir bewässert ihr eure Felder, erzeugt eure Kleidung, eure Autos und alle Kunststoffe. Durch mich werden Brände gelöscht.
Ich beschwere mich nicht, denn weder werde ich verschwinden, noch mich vermehren. Immerfort folge ich einem ewigen Kreislauf. Doch hier ein Wort der Warnung: Durch euer Handeln habt ihr mich verändert und somit alles was mich berührt: Ich reinige die Luft von euren Chemikalien, und falle als saurer Regen zu Boden. Ich laufe durch eure Produktionsprozesse und nehme Schadstoffe mit auf meine Reise. Unmengen von Plastik schwimmen in mir, in den Flüssen, in den Meeren, in der Tiefsee und – als Mikroplastik – in den Geweben aller Lebewesen, ja, auch in euch Menschen.
Ich bin unberechenbar und launenhaft geworden: Hier verursache ich Überschwemmungen, dort lange Dürreperioden. Schnee- und Eisdecken schrumpfen, Süßwasserressourcen werden knapper.
Merkt ihr nicht, wie viel Einfluss ich habe? Darum gebe ich euch den Rat: Verwendet mich sorgsam und mit Bedacht!
Ich bin es, euer Wasser!
Der BAUM klagt
Ich leide unter Stress. Ich bin überfordert mit den steigenden Temperaturen, dem Wassermangel, der Klimaveränderung. Ich werde immer anfälliger für Schädlinge. Den Stürmen halte ich kaum mehr stand.
Wir Bäume werden weniger. In den letzten dreißig Jahren gingen weltweit 420 Millionen Hektar Wald verloren. Wir Bäume werden immer öfter ein Raub der Flammen. Rund um den Erdball brennt es in der heißen Jahreszeit, und die Brände sind kaum noch zu löschen.
Wenn ihr Menschen uns Bäume vernichtet, ist es zu eurem eigenen Schaden. Denn Gott hat uns Bäume geschaffen, damit wir Sauerstoff produzieren. Den braucht ihr genauso so wie viele andere Lebewesen zum Überleben. Wir Bäume binden Kohlenstoff, der als Treibhausgas zur Erderwärmung führt. Und wir kühlen mit unseren Blättern durch Verdunstung die Luft. Ganz zu schweigen davon, dass wir vielen Insekten, Tieren, Pilzen und Pflanzen Lebensraum bieten. Wie könnt ihr zulassen, dass wir abgeholzt oder abgebrannt werden, wo wir euch doch so viel Gutes tun? Wo wir Bäume verschwinden, breiten sich Steppen und Wüsten aus.
Wann begreift ihr endlich, ihr Menschen, dass wir Geschwister sind, Teil eines Lebensnetzes und verbunden mit allen anderen Lebewesen, die Gott geschaffen hat?
Wann endlich wacht ihr auf und schützt das Klima, das ein überlebenswichtiges Gut für uns alle ist?
Ich bin es, euer Baum!
Die Klagegebete wurden ursprünglich für ein Politisches Nachtgebet der Katholischen Aktion der Erzdiözese Wien am 2.4.2022 in Wien Liesing verfasst.
Predigt
Liebe Gemeinde,
dem Herrn gehört die Erde mit allem, was sie erfüllt!
Der Psalm 24 bringt in seinem ersten Vers eine Einsicht auf den Punkt, die zumindest Christ*innen vertraut ist. Dennoch, scheint mir, ist uns ihre Konsequenz allzu oft nicht präsent.
Die Erde gehört nicht uns. Das heißt: Wir sind in eine Welt geboren, die uns nicht gehört. Wenn wir sie nutzen, müssen wir dies in der Demut tun, dass sie uns nur für eine gewisse Zeit anvertraut, ja gleichsam geliehen, ist.
Vorrecht und Verantwortung
Das Vorrecht, die Erde als unseren Lebensraum nutzen zu können, ist mit einer Verantwortung verbunden. Es ist die Verantwortung Gott gegenüber, dem die Erde gehört, und der auch uns das Leben geschenkt hat.
Gottes Erwartung an uns als seine Geschöpfe kann man so zusammenfassen: Leb dein Leben in dieser Welt so, dass du deine Freude an ihr haben kannst – und dass auch alle Mitgeschöpfe, die mit dir und nach dir diesen Planeten bewohnen, ihre Freude an ihr haben können. Richte also möglichst wenig Schaden an.
Ge- und Verbrauchen
Statt uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, nehmen wir Menschen es heute als ganz selbstverständlich, etwas als eigenen Besitz erwerben zu können, um es dann nach eigenem Gutdünken zu ge- oder verbrauchen.
Wir leben, als würde die Welt uns selbst gehören; und als hätten wir ein Recht darauf, grenzenlos konsumieren, aufbrauchen, und damit dem Kreislauf des Lebens entreißen zu dürfen.
Ich wurde einmal darauf hingewiesen, dass das vielgebrauchte Wort „Privat“ von privo – berauben – kommt.
Privateigentum – ein fragwürdiges Recht?
Wer etwas zu seinem Privateigentum macht, nimmt es der Allgemeinheit weg: Da uns eigentlich nichts wirklich gehören kann, ist Privateigentum ein Raub an den uns gemeinsam anvertrauten Gütern.
Wohin eine auf Besitz, Konsum und Verbrauch basierende Lebensweise führt, haben die Klage von Erde, Wasser und Baum deutlich genug gemacht.
Die Erde gehört Gott, nicht uns. Das ruft Psalm 24 eindrücklich in Erinnerung.
Der Psalm mahnt jedoch nicht nur; sondern er zieht aus dieser Einsicht auch ermutigende Konsequenzen.
Die dreigliedrige Struktur
Der Psalm hat eine klar dreigliedrige Struktur.
Verse 1-2
Die ersten beiden Versen beinhalten eben jenes Grundbekenntnis: Gott gehört die Welt – und niemandem sonst. Denn Gott ist der Schöpfer, er hat sie gemacht.
Verse 3-6
Der zweite Teil klingt wie ein Pilgerlied. Die Situation, die man sich für diesen Gebetsteil vorstellen kann, ist die: Eine Gruppe (jüdischer) Pilgern kommt nach Jerusalem und erreicht den Eingang des Tempelbereichs. Bevor sie den Tempel betreten dürfen, wird ihnen von einem Priester in einer liturgischen Feier die Frage gestellt: "Wer ist würdig den Tempel – das Haus Gottes – betreten?"
Die Antwort der Pilger auf diese Frage ist: Jeder, der mit schuldlosen Händen und ehrlichem Herzen dort erscheint! Jeder, der keine Verlogenheit kennt und keinen Meineid schwört. Alle also, die ihr Leben im Sinne des Schöpfers führen. Die können sich ihm getrost nähern.
Der Priester gewährt ihnen darauf Einlass mit der Zusage: „Wer das tut, wird Segen empfangen vom Herrn.“
Verse 7-10
Der dritte Teil wiederum spricht nun davon, dass auch Gott in den Tempel kommt – und die Gläubigen ihn willkommen heißen sollen. „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ Wir kennen das als Adventslied: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit.
Dass der feierliche Einzug Gottes in den Tempel am Schluss des Psalms steht, ist ein wenig irritierend. Eigentlich würde man ja davon ausgehen, dass Gott im Tempel schon da ist. Er gilt ja als sein Wohnort. Deswegen gehen die Pilger ja schon überhaupt zum Tempel hin.
Der historische Kontext
Die Forschung geht davon aus, dass der Psalm in einer Zeit entstanden ist, in der der (erste) Tempel gar nicht mehr existiert hat. (Vgl. Erich Zenger, Psalmen)
Vieles deutet darauf hin, dass der Psalm seinen Ursprung in der Zeit des Babylonischen Exils hat, in der auch sehr viele andere der Texte der jüdischen Bibel entstanden sind.
Die Situation, in der der Psalm entstanden ist, ist also vermutlich die: Die beiden Reiche Israel und Juda wurden von ihren mächtigen Nachbarn, den Babyloniern, erobert. Die Hauptstadt Jerusalem liegt in Schutt und Asche. Der Tempel ist zerstört, und die einstigen Bewohner sind verschleppt und leben verstreut im babylonischen Exil.
Die Babylonier waren mächtiger als die Israeliten. Dem damaligen Weltbild entsprechend hieß dies auch: Die Götter Babylons, Marduk, Baal und wie sie alle heißen, waren ganz offensichtlich mächtiger als der Gott Israels.
Wenn man sich diese Situation vor Augen hält, merkt man, dass dieser Psalm etwas Provokantes, Wagemutiges, ja fast schon Trotziges an sich hat!
"Jahwe, dem Gott Israels, gehört die Erde mit allem, was sie erfüllt. Auch das Festland gehört ihm, mit allein seinen Bewohnern." Dieses Bekenntnis ist nicht aus der Situation der Stärke und Überlegenheit heraus gesprochen; es ist vielmehr ein Bekenntnis gegen den äußeren Schein. Obwohl die Feinde Israels gerade Sieg um Sieg erringen, und obwohl es nach außenhin für den Moment so aussieht, als wären ihre Götter mächtiger, hält der Beter fest: Die Erde gehört immer noch Gott; und auch wir, obwohl wir gerade Sklaven der Babylonier sind.
Dass jetzt gerade die Babylonier herrschen können, kann also nur daran liegen, dass Gott ihnen das gerade zugesteht. Vielleicht tut er es ja in der Absicht, die Israeliten (wenn auch mit harter Hand) etwas zu lehren.
Wer darf sich Gott nähern?
Vor diesem Hintergrund bekommen die Fragen im Mittelteil neues Gewicht:
Wer darf sich Gott nähern?, fragt der Beter im Mittelteil. Wer darf von Gott Segen erwarten? Alle, die ihren Mitgeschöpfen gegenüber schuldlos bleiben, indem sie ihre Verantwortung ernst nehmen. Alle, die mit einem ehrlichem Herzen dort erscheint können, weil sie sich an die Wahrheit halten, statt sie zu verbiegen. Alle, die das Recht nicht verdrehen oder sich mithilfe von Lügenkonstrukten Vorteile verschaffen.
Wer sich um Recht und Gerechtigkeit müht, wer die Verantwortung „fürs Ganze“ im Blick behält, wer der Wahrheit gegenüber treu bleibt, der darf „hinaufziehen zum Berg des Herrn“ und mit dem Segen Gottes rechnen. Diese positive Aussage kann gleichermaßen als Kritik an den Eroberern verstanden werden wie auch als Selbstkritik.
Kritik an den Mächtigen…
Die, die sich auf Kosten anderer bereichern, indem sie sie unterdrücken und unterwerfen; die, die sich durch Lüge und Manipulation Vorteile verschaffen; die, die Raubbau an der Natur betreiben, die ihnen doch nur geliehen ist – die Ausbeuter, die Gewinnmaximierer, die Eroberer, die Rattenfänger und die Manipulationskünstler – sie haben von Gott nichts zu erwarten.
Diese indirekte Kritik konnten die verschleppten Israeliten wohl auf die Babylonier beziehen, die zu ihrer Zeit die Weltherrschaft anstreben.
Und ich denke, wir können es auch heute auf die raffgierigen und machtversessenen "Herrscher" unserer Zeit beziehen.
Jeden Tag wird unsere Erde ausgebeutet, vergewaltigt und zerstört. Jeden Tag wird in unserer Welt gelogen, dass sich die Balken biegen, um ein Wirtschaftssystem, das der Bereicherung der Reichen auf Kosten der Armen und der Natur dient, zu rechtfertigen und aufrecht zu erhalten. Jeden Tag wird manipuliert und die Lüge verbreitet, dass der Menschen nur glücklich werden könne, wenn er noch mehr kauft, noch mehr besitzt, noch mehr konsumiert und verbraucht.
Wer so lebt und handelt, macht sich an Gottes Schöpfung schuldig, und hat von Gott keinen Segen zu erwarten!
…und Einladung zur Selbstkritik
Die Kritik richtet sich aber nicht nur an die "Anderen", die "Mächtigen".
Die Auseinandersetzung mit der Frage, wer sich Gott nähern darf, kann von den Verschleppten auch als Antwort auf die Frage verstanden werden, warum sie den Zugang zum Gottesberg, und damit zur heilsamen Gegenwart Gottes, verloren haben.
Sind wir in unserem Handeln schuldlos anderen gegenüber geblieben? Sind wir der Wahrheit gegenüber treu und in unserer Verantwortung für unsere Mitgeschöpfe aufrichtig geblieben? Bleibt uns Gottes Hilfe versagt, weil auch wir uns mithilfe von Lüge und Selbstbetrug zu bereichern versuchten?
Aus meiner Sicht sind dies Fragen, die auch wir uns heute angesichts der vielen Krisen unser Zeit zu stellen haben.
Wir wissen es doch: Die dramatische Veränderung unserer Umwelt ist dem verantwortungslosen Wirtschaftssystem und dem zügellosen Konsumverhalten unserer Zeit geschuldet. Katastrophen in Gestalt von Kriegen, Hungersnöten, Dürren etc. sind eine Folge menschlichen Versagens und menschlicher Schuld.
Und auch wenn wir als einzelne Individuen weder die Verantwortung für das Scheitern der Menschheit tragen noch allein die nötige Umkehr bewirken können, so müssen wir uns doch Fragen stellen lassen: Lassen wir uns nicht viel zu leicht und viel zu gerne einreden, dass es nicht möglich sei, anders zu leben als so, wie wir es tun – auch wenn wir dabei die Lebensgrundlage für uns und alle zerstören? Lassen wir uns viel zu leicht und viel zu gerne überzeugen, dass Besitz ein natürliches Recht des Menschen ist, und dass man Dinge auf Dauer besitzen dürfe – als wäre die Welt unsere und nicht Gottes Welt? Vergessen wir nicht viel zu sehr darauf, staunend zu erkennen, wie großartig Gottes Schöpfung ist, und verabsäumen wir es nicht täglich, die Schöpfung dankbar zu achten, zu ehren und mit größter Sanftheit zu behandeln?
Es scheint, als hätten wir verlernt hat, uns selbst als Geschöpf zu sehen. Wer sich jedoch allzu leicht selbst als Krone der Schöpfung wähnt und selbige achtlos verbraucht, zerstört letztlich auch sich selbst.
Dennoch: Der Psalm ist ein Mutmacher
Der Psalm formuliert diese Kritik jedoch nicht explizit. Sein Ziel, so meine ich, ist ein anderes: Mut zu machen!
Er erinnert daran: Jeder, der ein aufrichtiges Herz hat und sich treu zur Wahrheit hält, darf mit dem Segen Gottes rechnen. Für die, die Gott suchen und sich bemühen, im Sinne Gottes zu leben, gibt es also einen Grund zur Hoffnung. Wo sich Menschen finden, die nach Gott zu suchen und die bereit sind, ihr Leben in Gottes Sinn zu gestalten, da wird Gott sich wieder finden lassen.
Der Psalm bleibt jedoch nicht bei grundsätzlichen Aussage stehen, dass die, die nach Gott suchen, mit seinem Segen rechnen dürfen. Er geht noch einen radikalen Schritt weiter. Er nimmt in gewisser Weise das Eintreffen dieser Zusage bereits vorweg und stimmt bereits das Loblied an, das eigentlich erst zu singen wäre, wenn der Tempel wieder aufgebaut ist und Gott in sein Heiligtum zurückkehren kann.
„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!", heißt es ab Vers 7.
Dabei leben die Israeliten noch verstreut im Exil. Ihre Hoffnung auf eine Rückkehr nach Jerusalem hat keinen sichtbaren Grund. Rückblickend wissen wir zwar, dass es geschehen ist: Der Tempel wurde tatsächlich wieder aufgebaut, und die Verstreuten konnten in ihre Heimat zurückkehren. Dennoch stimmt bereits einer (oder eine kleine Gruppe) der Vertriebenen ein Loblied auf Gottes Rückkehr ins Heiligtum an.
Begründete Hoffnung
Worauf gründet sich diese Hoffnung? Aus meiner Sicht kann sie sich nur auf diese doppelte Zusage gründen:
Gott ist immer noch der Herr über Himmel und Erde. Und alle, die ihn suchen und danach streben, seinen Willen zu tun, dürfen mit seinem Segen rechnen.
Aus dieser Überzeugung heraus kann der Beter dieses Psalms schon vorwegnehmen, was noch gar nicht eingetreten ist: Er besingt die Rückkehr Gottes in sein Heiligtum. Und damit besingt er einen heilsamen Neuanfang für die, die Gott suchen.
Mich fasziniert diese Herangehensweise! Der Psalmist jammert nicht einfach einer verlorenen Vergangenheit nach. Er träumt auch nicht nur davon, wie schön es wäre, den Tempel irgendwann wieder aufbauen zu können. Er stimmt bereits jetzt das Lob Gottes an für den Tag, an dem Gott seinem Volk wieder nahe sein und es durch seinen Segen heilen wird. Und er fordert seine verstreuten und verschleppten Zeitgenossen auf, es ihm gleich zu tun:
„Macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einzieht.“
Das Lob Gottes gibt Kraft
Ich bin überzeugt: dieses geradezu trotzige Singen des Loblieds auf die Rückkehr Gottes hat die, die dieses Lied gesungen haben, verändert. Ich denke, dass es hat in ihnen die Frage geweckt hat: Wie lebt man eigentlich so, dass es Gottes guter Absicht entspricht?
Ich denke, es hat ihnen auch die Kraft und die Freude dazu gegeben, allen äußeren Umständen zum Trotz ihr Leben nach dem Willen Gottes – den sie als eine Anleitung zu gelingendem Leben verstanden haben – zu ändern.
Schon im Exil hat zumindest eine kleine Gruppe begonnen, so zu leben, wie es der liebenden Absicht Gottes entspricht:
Dankbar! Staunend! Liebevoll und gerecht den Mitmenschen gegenüber! Achtsam der Schöpfung gegenüber! Der Wahrheit gegenüber treu! Demütig, im Wissen, dass ihnen die Erde nur geliehen ist.
Aber auch: voller Freude über jeden neuen Tag. Und voller Zuversicht, dass die Herrschaft ihrer Unterdrücker nicht endlos sein kann, weil sie nicht dem Willen Gottes entspricht.
Lob Gottes für künftiges Heil: ein Grundton der Psalmen!
In der Krise schon von dem Tag zu singen, an dem Gott einen Neuanfang geschenkt hat: darin liegt eine Kraft, die etwas verändert! Ohne diese verändernde Kraft wären die Israeliten wohl nie zurückgekehrt in ihre zerstörte Heimat. Das ist ein Muster, das in vielen Psalmen vorkommt: Oft blicken sie in der Krise zurück auf Zeiten, in denen Gott schon einmal geholfen hat und stimmen dann ein in ein Loblied, das man eigentlich erst singt, wenn die Hilfe bereits eingetroffen ist.
So verhelfen die Psalmen zu einem Wechsel der Perspektive. Sie zu beten, stärkt die Resilienz, und gibt die Kraft, erste Schritte, die zur Überwindung der Krise gehören, zu gehen.
In dieser Weise können sie auch uns heute helfen.
Stimmen auch wir ins Lob Gottes ein – allen Krisen zum Trotz!
Wir haben uns in diesem Gottesdienst bewusst gemacht, welch große Zerstörung der Mensch anrichtet. Wir haben uns ungeschönt vor Augen gehalten, welche Katastrophen und Krisen unsere Zeit betreffen. Dennoch sollen wir nicht einfach bei der Klage über alles menschliche Versagen stehen bleiben.
Vielmehr möchte ich euch ermutigen, im Sinne von Psalm 24 schon heute in ein Loblied einzustimmen. Loben wir Gott für den Neuanfang, den er schenken wird!
Stimmen wir ein in ein Lied, das davon singt, wie wunderbar es sein wird, wenn die Menschen im Sinne Gottes zu einem gerechten Wirtschaftssystem gefunden haben; und zu einer Ökonomie, die nicht auf grenzenlosem Verbrauch der Ressourcen dieser Erde basiert. Singen wir von Gottes guter Welt, in der unsere Kinder und Enkelkinder Gott dafür loben werden, weil sie gute Luft atmen und sauberes Wasser trinken können; und dass sie in allem ihre Genüge haben. Loben wir Gott dafür, dass er die Menschen wahre Zufriedenheit, wahres Glück gelehrt haben wird! Loben wir Gott dafür, dass seine Gegenwart, seine Liebe wieder in dieser Welt spürbar sein wird – für alle!
Ihr fragt euch, auf welchem Grund diese Hoffnung basieren sollte?
Sie basiert auf der selben Grundlage, auf der die Hoffnung des Psalmisten beruht: Die Welt gehört Gott. Er hat sie geschaffen und wohl geordnet. Sie ist sein Eigentum, nicht unseres. Und wo es Menschen gibt, die bereit sind, nach seinem Willen, nach seiner Ordnung, nach seiner Weisung für unser Miteinander zu fragen – Menschen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind, und die bei dem bleiben, was der Wahrheit entspricht – da wird auch Gott seinen Segen nicht vorenthalten. Sondern Neuanfänge möglich machen.
Wir können nicht zu viel hoffen; das Problem besteht vielmehr darin, dass wir zu wenig hoffen; zu wenig vertrauen; zu wenig Visionen für eine segensreiche Zukunft haben.
Von den Psalmen lernen!
Lernen wir von den Verstreuten Israels, Gott für das zu loben, was er noch gar nicht getan hat. Wenn wir es tun, werden wir – wie sie – auch die Kraft geschenkt bekommen, die nötigen Schritte zur Veränderung zu gehen. Umkehr ist nötig. Sie gelingt jedoch nur, wo sie von Hoffnung genährt und mit (Vor)Freude verbunden ist!
Gott hat unzähligen Generationen die Erfahrung geschenkt, dass er bereit ist, Umkehr zu ermöglichen und Neuanfänge zu schenken.
Warum sollte er diese Gnade nicht auch heute, in einer Zeit voller Krisen, schenken?
Amen.
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