Riskiere es, deine Talente einzusetzen
Glaubensimpuls
Pastor
Predigttext Lukas 19,11-27
Das Gleichnis vom anvertrauten Geld
»Es ist wie bei einem Mann, der verreisen wollte. Vorher rief er seine Diener zusammen und vertraute ihnen sein Vermögen an. Dem einen gab er fünf Talente, einem anderen zwei Talente und dem dritten ein Talent – jedem nach seinen Fähigkeiten. Dann reiste der Mann ab.
Der Diener mit den fünf Talenten fing sofort an, mit dem Geld zu wirtschaften. Dadurch gewann er noch einmal fünf Talente dazu. Genauso machte es der mit den zwei Talenten. Er gewann noch einmal zwei Talente dazu. Aber der Diener mit dem einen Talent ging weg und grub ein Loch in die Erde. Dort versteckte er das Geld seines Herrn.
Nach langer Zeit kam der Herr der drei Diener zurück und wollte mit ihnen abrechnen. Zuerst kam der Diener, der fünf Talente bekommen hatte. Er brachte die zusätzlichen fünf Talente mit und sagte: ›Herr, fünf Talente hast du mir gegeben. Sieh nur, ich habe noch einmal fünf dazu gewonnen.‹ Sein Herr sagte zu ihm: ›Gut gemacht! Du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du hast dich bei dem Wenigen als zuverlässig erwiesen. Darum werde ich dir viel anvertrauen. Komm herein! Du sollst beim Freudenfest deines Herrn dabei sein!‹ Dann kam der Diener, der zwei Talente bekommen hatte. Er sagte: ›Herr, zwei Talente hast du mir gegeben. Sieh doch, ich habe noch einmal zwei dazu gewonnen.‹ Da sagte sein Herr zu ihm: ›Gut gemacht! Du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du hast dich bei dem Wenigen als zuverlässig erwiesen. Darum werde ich dir viel anvertrauen. Komm herein! Du sollst beim Freudenfest deines Herrn dabei sein.‹
Zum Schluss kam auch der Diener, der ein Talent bekommen hatte, und sagte: ›Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist. Du erntest, wo du nicht gesät hast, und du sammelst ein, wo du nichts ausgeteilt hast. Deshalb hatte ich Angst. Also ging ich mit dem Geld weg und versteckte dein Talent in der Erde. Sieh doch, hier hast du dein Geld zurück!‹ Sein Herr antwortete: ›Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du wusstest, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nichts ausgeteilt habe? Dann hättest du mein Geld zur Bank bringen sollen. So hätte ich es bei meiner Rückkehr wenigstens mit Zinsen zurückbekommen. Nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer etwas hat, dem wird noch viel mehr gegeben – er bekommt mehr als genug. Doch wer nichts hat, dem wird auch das noch weggenommen, was er hat. Werft diesen nichtsnutzigen Diener hinaus in die Finsternis. Dort gibt es nur Heulen und Zähneklappern!‹«
Übersetzung: BasisBibel, Deutsche Bibelgesellschaft 2021
Predigt
Liebe Freunde, ich bin dankbar für die Einladung, heute über das Thema "Gemeinde sein" zu predigen.
Als "Gemeinschaft der Heiligen" verbunden
Letzten Sonntag haben wir in der englischsprachigen Gemeinde den Allerheiligen-Sonntag gefeiert. Wir haben Kerzen angezündet und Dankgebete gesprochen für Menschen, die für unser Leben "Saints" (also „Heilige“ waren): Großeltern, Eltern, Familienmitglieder und Freunde, die uns den christlichen Glauben gelehrt haben. Diese Zeit des Gebets hat uns daran erinnert, dass unsere Gemeinde mit anderen Glaubensgemeinschaften verbunden ist, hier und in anderen Ländern, in der Vergangenheit und in der Zukunft.
Diese Tatsache erinnert uns auch daran, dass es eine Verbindung zwischen unseren beiden Gemeinden gibt. Ja, wir feiern unsere Gottesdienste getrennt. Wir sprechen verschiedene Sprachen und repräsentieren verschiedene Kulturen. Aber wir teilen denselben Glauben, wir verkünden dasselbe Evangelium, wir folgen demselben Herrn Jesus nach. Und für die Art und Weise, in der wir gemeinsam im Dienst stehen können, danken wir Gott.
Der Titel dieser Predigtreihe – “Gemeinde sein” – hat mich neugierig gemacht. Als Nicht-Muttersprachler in Deutsch finde ich diesen Satz "Gemeinde sein" zweideutig. Er ist weder eine Aussage noch eine Frage. Aber ich glaube, er führt zu einigen wichtigen Fragen. Wie verstehen wir Gemeinde? Was ist der Zweck unserer Gemeinde? Durch welche Werte wird unsere Gemeinde definiert?
Sollen wir denn Reichtum vermehren?
In den vergangenen Wochen haben unsere beiden Gemeinden in den Gottesdiensten Texte aus dem Matthäusevangelium gehört. Im heutigen Evangelium erzählt Jesus ein Gleichnis über einen Herrn, der bald auf eine Reise geht und drei Dienern einige Talenten gibt.
Wir wissen, wie die Geschichte ausgeht. Der Diener, dem fünf Talente gegeben wurden, erarbeitet fünf weitere dazu. Der Diener, dem zwei gegeben wurden, gewinnt zwei weitere. Doch der Diener, dem nur ein Talent gegeben wurde, vergräbt es in der Erde und gibt es dann seinem Herrn zurück. Die beiden, die den Reichtum ihres Herrn vermehrt haben, werden gesegnet. Derjenige, der es nicht getan hat, wird als wertlos bezeichnet.
Um ehrlich zu sein, hat mir diese Bibelstelle nie gefallen. Ich habe sie immer als ungerecht und ein bisschen hart empfunden. Ich bin ein sehr konservativer Mensch. Ich bin vorsichtig, ich bin bedächtig, ich treffe nur langsam Entscheidungen. Wenn man mir eine Verantwortung überträgt, habe ich Angst, sie falsch zu handhaben. Und wenn man mir Geld geben würde, um es für meinen Herrn zu investieren, hätte ich Angst, es ganz zu verlieren.
Dass ich so bin, liegt zum Teil an meinem Großvater, der während der Great Depression – der großen Wirtschaftskrise in den USA in den 1930er Jahren – erwachsen wurde. Er wusste aus erster Hand, wie gefährlich es ist, Risiken einzugehen und alles zu verlieren. Die Erzählungen darüber, wie er diese schwierige Zeit erlebt hat, haben mich sehr beeindruckt und meinen Sinn für Vorsicht geschärft.
Darüber hinaus scheint diese Geschichte Jesu auch die aggressive Anhäufung von Reichtum zu belohnen. Sie scheint im Widerspruch zu den Anweisungen zu stehen, die Jesus seinen Anhängern unter anderen Umständen gibt: Verkauft euren Besitz und gebt das Geld den Armen; seid bereit, euren Mantel einem anderen zu geben, der ihn brauchen könnte.
Nicht Kapitalismus, sondern Stewardship
Aber dieser Text ist keine Bejahung von Ungleichheit. Vielmehr ruft Jesus hier seine Jünger auf, gute “stewardship” zu praktizieren. Ich habe hier das englische Wort "stewardship" verwendet. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie man dieses Wort auf Deutsch übersetzen könnte. In meiner Tradition bedeutet "stewardship", die Gaben und Talente in der Gemeinde als Segen Gottes zu sehen und sie gut zu nutzen.
Hier ruft uns Jesus also auf, die Gaben und Talente, die Gott uns gegeben hat, gut zu nutzen – gute “stewards” zu sein. Aus dem Kontext dieses Gleichnisses wissen wir, dass die Abreise Jesu unmittelbar bevorsteht. Jesus hat seinen Jüngern bereits gesagt, dass er verhaftet, verfolgt und gekreuzigt werden wird. Die Jünger haben sich wohl die Frage gestellt: Wann wird das geschehen? Was wird es für uns bedeuten? Was bedeutet es für unsere Gemeinde?
Stewardship bedeutet, die Gaben und Talente in der Gemeinde als Segen Gottes zu sehen und sie gut zu nutzen.
Anstatt seinen Jüngern direkt zu antworten, bietet Jesus eine Reihe von Gleichnissen, die von Treue handeln, von Risiko und davon, gut vorbereitet zu sein. Mit diesem Gleichnis sagt Jesus seinen Jüngern, dass sie eine Gabe erhalten haben, die größer ist als alles andere – das Evangelium, die gute Nachricht unserer Rettung. Es ist eine Gabe, die wertgeschätzt werden muss, die aber auch geteilt, genutzt, eingesetzt und vermehrt werden muss, damit die Reichweite des Evangeliums vergrößert wird.
Riskiere es, deine Gaben einzusetzen
In dem Gleichnis setzen zwei Diener ihre Gaben weise ein und werden dafür belohnt. Aber der dritte tut es nicht. Er ist nicht unehrlich, verschwenderisch oder egoistisch. Sein Problem ist, dass er ängstlich ist. Er will nur das schützen, was ihm gegeben wurde. Er will nicht riskieren, die Gabe zu verlieren.
Aber so wie der Herr eine Rendite für seine Investition verlangt, so fordert auch Jesus seine Jünger auf, mit den Gaben, die sie erhalten haben, ein Risiko einzugehen. Das Risiko einzugehen, die gute Nachricht der Erlösung mit anderen zu teilen. Das Risiko einzugehen, andere zu lieben und die Bedürfnisse der anderen über die eigenen zu stellen. Das Risiko, Gott über alles zu ehren, mehr sogar als die weltlichen Herrscher und religiösen Autoritäten ihrer Zeit.
Eine Gemeinde des Glaubens zu sein, bedeutet auch, Risiken einzugehen. Das Evangelium von Jesus ist uns anvertraut worden. Wir nehmen diese gute Nachricht an; wir freuen uns über die Wahrheit unserer Erlösung durch den Glauben an Jesus. Die Frage ist: Werden wir diese Gabe für uns behalten, in der Erde vergraben, ohne dass andere davon profitieren? Oder werden wir diese Gabe nutzen, um anderen das Evangelium in Wort und Tat zu verkünden, um in der Welt um uns herum etwas zu verändern?
Eure Gaben werden sichtbar
Wenn ich als Freund auf diese Gemeinde schaue, sehe ich viele Gaben. Ich sehe und höre die Musik und die Gebete, die euere Gottesdienste beleben und die Menschen näher zu Gott bringen. Ich sehe die Liebe, die ihr füreinander habt, Schwestern und Brüder im Glauben. Ich sehe euer Mitgefühl für andere in Not, das sich in eurer Unterstützung der Missionen in Wien und im Ausland ausdrückt. Ich sehe ein Volk, das Gott liebt und dankbar für Gottes Segen ist.
Im ersten Jahrhundert ein aktiver Christ zu sein, bedeutete buchstäblich, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Jesus kannte die Risiken für diejenigen, die ihm folgten. Er hat schlussendlich ja selbst die Konsequenzen getragen. Im Wien des 21. Jahrhunderts droht uns kein Schaden, wenn wir uns zu unserem christlichen Glauben bekennen. Dennoch sind wir aufgerufen, mutig zu handeln, Schritte zu setzen, die die Bequemlichkeit und Leichtigkeit unseres Glaubens stören könnten.
Jeden Dienstag in der Wärmestube zu dienen ist ein Risiko. John Wesley und die frühen Methodisten brachten das Evangelium in Gefängnisse, Kohlebergwerke und Kneipen; ihre Begegnungen mit den Armen öffneten ihnen die Augen für die Ungerechtigkeiten in ihrer Gesellschaft und veranlassten sie, Risiken einzugehen, um soziale Heiligung zu fördern. Wenn wir Mahlzeiten ausgeben und Zeit mit bedürftigen Menschen in unserer Nachbarschaft verbringen, werden wir mit der Ungleichheit und Ungerechtigkeit um uns herum konfrontiert, und wir sind aufgerufen, zu handeln.
Einander verzeihen ist ein Risiko.
Doch wenn wir das Risiko eingehen, anderen zu vergeben,
teilen wir die Gabe der Heilung und des Friedens.
Die Türen unserer Kirche zu öffnen ist ein Risiko. Wenn wir wirklich jeden willkommen heißen, der durch diese Türen kommt, werden wir Geschichten von Menschen hören, die ganz andere Erfahrungen mit Gott gemacht haben als wir selbst. Wir werden aufgerufen sein, andere zu lieben, die ihren Glauben vielleicht auf eine Weise zum Ausdruck bringen, die uns unangenehm ist.
Einander zu verzeihen ist ein Risiko. Es ist leicht, die Fehler der anderen zu sehen und unsere eigenen zu übersehen. Aber wenn wir für ein Unrecht, das wir begangen haben, um Vergebung bitten, öffnen wir damit die Tür zur Versöhnung. Und wenn wir das Risiko eingehen, anderen zu vergeben, teilen wir die Gabe der Heilung und des Friedens.
Gott hat uns einige sehr wertvolle Gaben gegeben – einen lebendigen Glauben, eine Liebe zu Gott, ein Herz für andere. Möge Gott dieser Gemeinde den Mut schenken, diese Gaben zu riskieren, um die gute Nachricht von Gottes Liebe miteinander und mit der Welt zu teilen.
Amen
Die Predigt wurde am 12.11.2023 in der EmK Wien-fünfhaus anlässlich der Gottesdienstreihe "Gemeinde sein" gehalten.
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