Sterben um zu leben

Glaubensimpuls

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Dr. Stefan Zürcher

Bischof Mittel- und Südeuropa


Predigt zu Johannes 12,20-26, Bischof Dr. Stefan Zürcher am 17.03.2024 in Wien

Das Evangelium zieht Kreise

„Unter denen, die zum Passafest nach Jerusalem gekommen waren, um Gott anzubeten, befanden sich auch einige Griechen, die baten: Wir möchten gerne Jesus kennenlernen!“
Ich stelle euch Alexander und Herakles vor. Sie kommen aus Philippi in Nordgriechenland. Sie sind wohlhabende Kaufleute, weit herumgekommen und haben viel von der Welt gesehen.

Reisen bildet bekanntlich, und so sind sie auch geistig up to date. In ihren großen Philosophen – Aristoteles, Epikur, Plato und wie sie alle heißen – kennen sie sich bestens aus. Aber die vielen tiefsinnigen Erklärungen, die sie dort lasen, weckten nur immer wieder neue Fragen. Irgendwann suchten sie dann Antworten in den Tempeln ihrer Götter. Aber diese schwiegen. Jetzt wollen sie erfahren, welche Antworten andere Religionen auf die großen Lebensfragen anbieten.

In Alexandria lernten sie einige Mitglieder der jüdischen Gemeinde kennen. Die rieten ihnen: ‘Geht doch nach Jerusalem. Dort gibt es wichtige theologische Schulen mit klugen Lehrern’.
So arrangierten die beiden eine Geschäftsreise nach Jerusalem. Als sie ankommen, herrscht helle Aufregung. Ein Toter namens Lazarus sei von einem herumreisenden Rabbi wieder zum Leben erweckt worden. Jesus heiße er. Die Gerüchteküche brodelt. Das weckt ihre Neugier.
‘Diesen Jesus müssen wir sehen und persönlich kennenlernen!’, sagen sie zueinander.

Was der Evangelist Johannes hier eher beiläufig notiert, markiert eine wichtige Zäsur. Zum ersten Mal bekommt Jesus es mit heidnischen Griechen zu tun. Das bedeutet nichts weniger als: Europa klopft an seine Tür! Zum ersten Mal deutet sich an, was später mit dem Missionsbefehl und mit dem Schritt des Paulus hinüber nach Griechenland Tatsache wird: Jesus und seine Botschaft bleiben nicht in der Regionalliga, sondern die Christen werden Global player. Ihr Glaube macht vor keinen Völker-, Klassen- und Religionsschranken halt. 
Das Evangelium beginnt, Kreise zu ziehen!

Jesus "musste" sterben

Aber das wird hier nur ganz im Verborgenen angedeutet. Denn ob unsere beiden griechischen Kaufleute in der Begegnung mit Jesus fanden, was sie suchten – das wird nicht erzählt. Sie geraten im weiteren Verlauf des Geschehens völlig aus dem Blick.

Wenn Jesus sagt: „Die Stunde ist gekommen! Jetzt wird die Herrlichkeit des Menschensohns sichtbar werden“, gewinnt man gar den Eindruck, Jesus gehe überhaupt nicht auf sie ein. Das ist doch eine eigenartige Antwort auf die Bitte, ihn kennenzulernen. Jesus redet völlig an ihnen vorbei. Er blendet sie wie aus. Warum diese Reaktion?

Es könnte doch sein, dass sich in ihnen Engel verbergen, die ihm im Auftrag des Vaters sagen: ‚Du hast von deinem eigenen Volk schon so viel Ablehnung erfahren. Jetzt ist der Moment gekommen. Wende dich den Völkern und Nationen zu! Die Tür zum Tempel ist zugegangen, die Tür zu den Heiden, das große weite Völkertor steht dir offen! Lass Jerusalem Jerusalem sein, die Welt ist groß und überall warten Menschen auf dich! Der große Durchbruch steht unmittelbar bevor! Nütze die Gunst der Stunde!‘

Jesus begreift schon – seine Stunde ist gekommen. Aber ganz anders als die anderen denken. Darum läuten bei ihm die Alarmglocken: ‘Das sind doch dieselben Töne wie damals in der Wüste. Der Teufel wollte mich doch auch von meinem Weg nach unten in die Niedrigkeit der Menschen abbringen. Und Petrus, der partout nicht akzeptieren wollte, dass ich nicht den Weg des Triumphes gehe? „Weg mit dir, Satan!“, entfuhr es mir damals.’

So auch hier. Jesus spürt: ‚Das ist verführerisch. Der Weg, der durch diese beiden Griechen angedeutet wird, das wäre ein verlockender Ausweg. Nicht ans Kreuz, sondern im Triumph am Kreuz vorbei!‘ Vielleicht ist Jesus in diesem Moment jene alte, dunkle Isaak-Geschichte durch den Kopf gegangen.
Jene Geschichte, wo Gott dem Abraham im letzten Moment, als dieser schon das Messer gezogen hatte, um den eigenen Sohn zu opfern, „Halt!“ zugerufen und ihm an der Stelle des Sohnes ein Opfertier gegeben hat. Vielleicht hat die Frage der Griechen in ihm den Gedanken geweckt: ‚Könnte es mit mir nicht auch so glücklich ausgehen?‘

In diesem Moment drängt sich Jesus wie ein Rettungsanker gegen diese Verlockung ein Gleichnis aus der Natur auf: Das Weizenkorn, das nicht in die Erde fällt und stirbt, bringt keine Frucht. Natürlich, es gibt auch Weizenkörner, die man nicht als Saatgut braucht und in die Erde sät. Aus dem größten Teil wird direkt Brot gebacken. Sie verfaulen nicht und sind trotzdem nicht unnütz.

Aber, um im Bild zu bleiben, sie „bleiben allein“, sie vermehren sich nicht. Fruchtbarkeit und Vermehrung kommen nur aus dem Weizenkorn, das in die Erde kommt und dort abstirbt. Was das bedeutet, wird einem klar, wenn wir an Hungerszeiten denken.

Man wirft kostbare Körner, die die ausgehungerten Leute satt machen könnten, in die Erde, wo sie „sterben“. Wüsste man nicht, was aus ihnen wird – es wäre Irrsinn. Und es kommt ja auch vor, dass sich Leute am Saatgut vergreifen. Die Vernunft wird dann aber durch die Ernte des nachfolgenden Jahres belehrt. Das Samenkorn muss absterben, wenn es sich vermehren soll.

Merkt ihr, wie dieses Bild im Blick auf Jesus und seine Situation in Jerusalem zu sprechen beginnt? Er könnte zu den Griechen gehen und womöglich große missionarische Triumphe feiern. Aber Gottes Wille zeigt in eine andere Richtung. Jesus muss sterben. Nur so wird sein Leben nachhaltig, unaufhörlich Frucht bringen, eben ewiges Leben. Ohne Kreuz keine Ostern, kein neues Leben, keine Kirche, kein ewiges Leben für die Welt. Jesus ist gestorben und auferstanden. Darum ist es wahr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer mich annimmt, wird leben, auch wenn er stirbt.“ (Johannes 11,25)

Sein Leben gering achten

Mit dem Bild vom Weizenkorn macht uns Gott noch etwas deutlich: Das Wort „missionarisch“ und das Wort „Triumph“ vertragen sich nicht. Genau dies sagt das für unsere Ohren so harte Wort, mit dem Jesus das Weizenkorngleichnis deutet:
„Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. Wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es für das ewige Leben bewahren.“ 
Das bedeutet: Das Gesetz des Weizenkorns gilt für jeden Christen. Der Weg, den Jesus nach Jerusalem gegangen ist, bestimmt auch den Weg seiner Jünger und aller Nachfolgerinnen. Nicht Triumph, Größe, Macht, Erfolg oder Ansehen sind Kennzeichen der Christen und der Kirche.

Im Gegenteil, Christsein hat mit Niedrigkeit und Ohnmacht zu tun. Das Christsein verlangt uns etwas ab, Christsein hat mit Loslassen, mit Sterben zu tun. Im Unterschied etwa zu unseren Geschwistern in Nordafrika können wir hier in Europa unseren Glauben praktisch ungestört leben. Darum vergessen wir gerne, dass Christsein etwas kostet, dass Christsein nichts für solche ist, die möglichst unbehelligt und angenehm durchs Leben kommen wollen.

Natürlich, wir sollen uns nicht als potenzielle Märtyrer sehen oder uns das Leben selbst schwer machen durch falsch verstandenen Verzicht. Ob und wie sich in unserem Leben das Gesetz des Weizenkorns auswirkt, ist allein Gottes Sache.

Aber das Bild, mit dem Jesus anschaulich macht, wie Gott denkt und handelt und wie unser Leben als Christinnen aussieht, soll uns darauf vorbereiten: Es ist nicht einfach ein ungeplanter Defekt, eine vermeidbare Panne in unserem Christenleben, wenn wir durchs finstere Tal hindurch müssen, wenn uns ein Rucksack aufgebürdet wird, der uns drückt, wenn wir Gegenwind spüren, wenn wir auf Widerstand stoßen, auf Unverständnis, auf Ablehnung.

Das Weizenkorn-Gleichnis und der Weg Jesu ans Kreuz, den es andeutet, sollen uns sagen: Gott und Leiden sind kein Gegensatz, sondern können zusammengehören.
Vielleicht ist uns das in der Theorie noch irgendwie klar. Aber in der Praxis? Im Alltag?Sieht es da nicht oft anders aus? Sind die Vorstellungen vieler Menschen von Gott und seinem Wirken und vom Leben nicht doch oft weit weg von dem, was uns die Bibel deutlich macht?

Gott – nicht der gekreuzigte, sterbende, ohnmächtige, leidende, uns etwas zumutende Gott, sondern Gott, eine Wachsfigur, die man nach Bedarf zu Recht knetet.

Gott – ein Lückenbüßer, den wir dann zu Hilfe rufen, wenn wir den Karren aus eigener Kraft nicht mehr aus dem Dreck bringen, den man sonst aber einen guten alten Mann sein lässt.

Gott – ein Vertragspartner, bei dem man als Gegenleistung für ein anständiges Leben seinen Segen abholt.

Gott – der Garant für ein angenehmes Leben ohne allzu großen Gegenwind.

Das war bei den ersten Nachfolgern Jesu übrigens nicht anders. Gerade die, die Jesus am Nächsten waren, die Jünger, konnten seinen Weg nicht akzeptieren. Und als ihr Herr hilflos, ohnmächtig, sterbend am Kreuz hing, hielten sie es nicht mehr aus, kehrten ihm den Rücken und gingen in allen Himmelsrichtungen davon.

Sie sind auch darin ein Spiegelbild der Gemeinde. Die Gemeinde steht zu allen Zeiten in der Versuchung, dem gekreuzigten Jesus den Rücken zu kehren, Widerstand auszuweichen und sich gemütlich einzurichten, in Jesus nicht mehr als einen sanften Therapeuten zu sehen, der jedem wohl und keinem weh tut und eine wohlige Wärme um sich verbreitet.

„Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. Wer aber sein Leben in dieser Welt geringachtet, wird es für das ewige Leben bewahren.“ - Auch wir stoßen an der Härte dieses Satzes immer wieder unseren Kopf an.

Loslassen und das Leben gewinnen

Von außen betrachtet muss eine solche Aussage wie eine bodenlose Dummheit klingen. 'Ich will doch leben, ich will nicht sterben‘, sagt doch der gesunde Menschenverstand in jedem von uns. Was meint Jesus damit?
Das Wort rechnet damit, dass es neben und jenseits der irdischen Wirklichkeit noch eine andere gibt, die Welt Gottes. Wenn diese mächtige Kraft, die von außen kommt, durch Gottes Geist in ein Leben eingreift, dann geschieht es, dass die Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden und neu definiert wird, was es heißt, wirklich zu leben. Der Dichter Ernst Eggimann beschreibt das so:
Lehre mich die andern Rechnungen:
Ich verschenke und werde reich.
Ich halte nichts fest und erhalte in Fülle.
Weil ich schwach bin, weil ich die andere Backe hinhalte, trifft mich keiner.
Weil ich ja sage, weil ich mitleide, weil ich mich mitfreue, gewinne ich das Leben.

Schon vom irdischen Leben gilt: Leben heißt täglich ein wenig sterben, ein Stück Leben loslassen. Loslassen z.B. von ungelebten Möglichkeiten. Zu meiner Identität gehört ja nicht nur, was ich geworden bin und habe, sondern auch das, was ich nicht geworden bin und nicht habe.

Mit dem Entscheid für meine Frau habe ich mich gleichzeitig entschieden, keine andere zu heiraten. Mit dem Entscheid, Pfarrer zu werden, habe ich mich gleichzeitig entschieden, keinen anderen Beruf auszuüben, usw. 

Leben heißt jeden Tag Loslassen. Und einmal werde ich überhaupt alles, was mir lieb ist, loslassen müssen, das Leben selber. Was vom irdischen Leben gilt, gilt erst recht vom Leben mit Jesus Christus: „Wer sein Leben liebt...“:

Vielleicht würde dieser Satz in deinem und meinem Leben heute so klingen: ‚Wer sein Geld liebt…‘ – gemeint ist: mehr liebt als Gott; ‚wer die Institution Kirche mehr liebt als Gott‘; ‚wer ein gesichertes Leben mehr liebt als Gott‘; ‚wer seine Idealbilder mehr liebt als Gott‘ ...

Ich denke, jeden von uns trifft irgendwann Jesu Ruf, dies oder jenes loszulassen. Viele von uns hat er auch schon getroffen. Wie reagierst du darauf? – Dieser Ruf ist mit einer großen Verheißung verbunden: „Wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es für das ewige Leben bewahren.“

Ein eindrückliches Zeugnis für die Wahrheit dieses Satzes, dafür, dass Leben und Christsein loslassen und gleichzeitig das Leben gewinnen heißt, ist Dietrich Bonhoeffer. Bonhoeffer musste viel loslassen, mit 39 Jahren dann auch sein Leben.Seine letzten Worte, bevor er kurz vor dem Ende des 2. Weltkrieges umgebracht wurde, waren: „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens“.

Das möchte ich am Ende meines Lebens auch sagen können.

Schluss

Mit diesem Bibelwort heute Morgen erinnert uns der gekreuzigte und auferstandene Christus: Sein Weg ans Kreuz ist für uns bestimmend, und er lädt uns ein, unser Leben nicht krampfhaft festzuhalten, sondern es als Gabe zu verstehen und es für ihn und auch für andere einsetzen. Ein solches Leben trägt Frucht. Ein solches Leben hat Ewigkeitswert – unverbrüchliche Gemeinschaft mit Jesus Christus, ewiges Leben.

Amen.

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