Im Backofen voller Liebe

Glaubensimpuls

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Esther Handschin

Pastorin, Erwachsenenbildung


Predigt zu Markus 12,37b-44

Was eine Witwe und ein Asylwerber miteinander verbindet

Die Geschichte von der armen Witwe im Tempel hat sich mir einprägsam mit einem Menschen verbunden, mit dem ich darüber im Gespräch war. Es war ein Asylwerber aus Afghanistan. Er hat mich um die Taufe gebeten. Ein Jahr lang habe ich ihn begleitet und darauf vorbereitet. In seiner Heimat hatte er als Arzt gearbeitet. In Österreich jedoch durfte er nicht arbeiten und hatte viel Zeit. So habe ich ihm die Aufgabe gegeben, alle vier Evangelien zu lesen.

Das Markusevangelium war ihm das liebste und deswegen wollte er mit der Taufe auch den christlichen Namen Markus annehmen. Warum ist dir das Markusevangelium das liebste Evangelium, habe ich ihn gefragt. Er zitierte mir zunächst eine Aussage Jesu aus Markus 2: „Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. Ich nicht gekommen, um die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder.“ (Mk 2,17) Als Arzt wusste er, was das bedeutet.

Dann nannte er mir die Geschichte von der armen Witwe. Diese Geschichte hatte sein Herz berührt und ihm etwas Wesentliches von Gott gezeigt. Es kommt nicht auf die Menge an Geld, auf den Reichtum oder die Gaben an, die jemand hat oder geben kann. Das Wichtige ist die Hingabe, die ich lebe. Und diese Hingabe kann ich auch leben, wenn ich wenig oder nichts an finanziellen oder materiellen Mitteln zur Verfügung habe.

Diese Situation kannte Markus als Asylwerber in Österreich zur Genüge. Er war in dieser Zeit auf die Hilfe anderer angewiesen, auf die Rechtsberatung der Diakonie, auf finanzielle Unterstützung durch den Staat, auf die Begleitung und Unterstützung durch verschiedene Menschen aus der Gemeinde. Dennoch versuchte er sich sobald als möglich nützlich zu machen. Als er genug Deutsch konnte, unterrichtete er andere Landsleute in dieser Sprache. Und er begleitete über ein Sozialprojekt einen Österreicher mit einer körperlichen Behinderung in alltäglichen Dingen.

Sind alle Schriftgelehrten ehrsüchtig?

Im Markusevangelium bildet die Geschichte von der armen Witwe eine Art Kontrast zu einer Personengruppe, von der Jesus zuvor spricht. Er macht das Volk auf die Schriftgelehrten aufmerksam und warnt diejenigen, die ihm zuhören vor dieser Personengruppe. Er beschreibt sie als Menschen, die gerne zeigen, dass sie bedeutsam sind. Sie lassen sich grüßen. Sie nehmen bevorzugt die Ehrenplätze ein. Und sie scheinen das Mitgefühl gegenüber denen verloren zu haben, die nicht so gut gestellt sind wie sie selbst.

Nicht jeder Schriftgelehrte scheint dieser Darstellung Jesu entsprochen zu haben. Noch ein paar Zeilen zuvor ist von einem Schriftgelehrten die Rede, mit dem sich Jesus über das Doppelgebot der Liebe unterhält: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben und deinen Mitmenschen wie dich selbst.“ (Mk 12,29-31, gekürzt) Als der Schriftgelehrte ihm die Wichtigkeit dieses Gebotes bestätigt, meint Jesus, dass er nicht weit weg vom Reich Gottes sei. Es gibt also solche und andere bei den Schriftgelehrten.

Wie steht es um unsere Beziehung zu armen Menschen?

Mir scheint als habe dieser Hinweis Jesu auf das Verhalten der Schriftgelehrten an dieser Stelle die Aufgabe, uns als Zuhörende einen Spiegel vorzuhalten: Wieviel Aufmerksamkeit brauche ich von anderen Menschen? Stehe ich gerne im Rampenlicht? Wie steht es um mich und mein Verhältnis zu den Menschen, die nicht so viel zum Leben haben wie ich? Was kann ich von dieser armen Witwe lernen, um die es in der folgenden Geschichte geht?

Diese Frau war als Witwe zur damaligen Zeit in ähnlicher Weise auf die Hilfe anderer angewiesen, wie ein Asylwerber heute in Österreich. Rechtsberatung, finanzielle Unterstützung und Begleitung in alltäglichen Dingen: All das macht selbst einen selbstbewussten Menschen unsicher und verzagt. Man bekommt die eigene Armut und Ohnmacht präsentiert und das beschämt immer wieder neu. Wie begegnet die Witwe in der Geschichte dieser Erfahrung?

Was alles im Opferkasten Platz hat

Ich habe dazu ein Bild vor Augen: Stellt euch einmal vor, dass diese Frau nicht nur zwei kleine Kupfermünzen in den sogenannten Opferkasten legt. Indem sie mit den beiden Münzen alles, was sie zum Leben hat, hineinlegt, legt sie noch viel mehr hinein. Sie legt all den Mangel in diesen Opferkasten, den sie durch ihre Armut empfindet. Sie legt die Scham hinein, die sie so gebeugt sein lässt. Sie legt ihre Unsicherheit mit hinein, mit der sie sich im Tempel bewegt. All die Ohnmacht liegt da zusammen mit den Münzen in dem Opferkasten. Und auf einmal verwandeln sich Mangel, Armut, Scham, Ohnmacht und Unsicherheit in drei Kostbarkeiten, die dieser Frau geschenkt werden: Es sind dies ein unerschütterliches Gottvertrauen, eine innere Freiheit und die Bereitschaft zur Hingabe.

Gottvertrauen

Es gehört zu den Eigenarten im Leben der Menschen, dass sich viele erst in Krisenzeiten und eigener Ohnmacht auf Gott besinnen. Der Auslöser kann eine schwere Krankheit, eine erzwungene berufliche Neuorientierung, eine sich zuspitzende familiäre Situation oder ein Wechsel des Wohnortes sein. Damit verbunden ist das, was diese Witwe wohl tagtäglich erlebt: die Erfahrung ganz auf sich und nur auf sich gestellt zu sein und dabei zu erkennen, dass das nicht ausreicht, um das Leben zu meistern.

Wenn das Leben, das man bisher so gut im Griff gehabt hat, auf einmal aus den Fugen gerät und einem entgleitet, selbst wenn man sich noch so anstrengt, dann fragt man danach, wer einem das Leben gibt und wer es in der Hand hält.

Wenn man an Grenzen stößt und erkennt, dass man aus eigener Kraft nicht viel zustande bringt, wenn man mit einem Mal auf die Hilfe anderer angewiesen ist, dann fragt man sich, wann die eigene Zeit abgelaufen ist und wer den Zeitpunkt dafür bestimmt.

Wenn wir in Situationen geraten, wo wir — egal wie wir handeln — so oder so Schuld auf uns laden und andere Menschen verletzen, dann fragen wir, von wem wir uns am letzten Ende einen gerechten und gnädigen Urteilsspruch erhoffen können.

Dass wir oft erst in Grenzsituationen dazu bereit sind, uns ganz in Gottes Arme zu werfen und uns ihm anzuvertrauen, zeigt wie schwer es uns fällt dieses Gottvertrauen und die Zuversicht in seine Fürsorge Tag für Tag in unserem Leben konkret werden zu lassen. Doch die Witwe erkennt: Gottvertrauen, das ist meine einzige Chance.

Innere Freiheit

Mit ihrem Gottvertrauen gewinnt die Frau am Opferkasten darüber hinaus eine innere Freiheit, die uns zum Staunen bringt. Hier haben sich die Mängel, die Schwächen, die Ohnmacht und die Unsicherheit schon in eine kostbare Gabe verwandelt. Wo andere sich für ihre Armut in Grund und Boden schämen, da tritt sie auf und lässt sich nicht beirren. Auch ihr Beitrag, auch ihre Gabe ist etwas wert und will als solche wahrgenommen werden. Sie schämt sich ihrer Armut und ihrer Bedürftigkeit nicht. Sie hat das als zu ihrem Leben dazugehörend angenommen und akzeptiert. Sie braucht sich nicht dafür zu entschuldigen oder irgendwelche Rücksichten zu nehmen, weil sie jemanden in Schwierigkeiten bringen könnte. Nein, das Vertrauen in Gott gibt ihr die Gewissheit und Kraft, auch zu ihrem Mangel und zu ihrer Armut zu stehen.

Hingabe

Schließlich ist da noch die Bereitschaft zur Hingabe. Diese Frau hat im Gegensatz zu den Menschen, die auf die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen angewiesen sind, nichts mehr zu verlieren. Darum kann sie sich von allem lösen, was sie noch in ihren Händen hat. Sie kann sich mit Haut und Haar Gott anvertrauen und alles von ihm erwarten, weil sie ihm nicht mehr geben kann als das, was sie hat — ihr nacktes Leben, das, was sie selbst ist.

Eine Witwe als Vorbild für Jesus

Diese Begebenheit, wie sie im Tempel geschehen ist, steht übrigens an einer bemerkenswerten Stelle im Markusevangelium. Es ist die letzte Szene, die sich im Tempel und damit im öffentlichen Raum abspielt. Danach spricht Jesus nur noch zu den Jüngern. Und es ist als ob Jesus in der Folge sich selbst ein Beispiel am Tun dieser Witwe nehmen würde: Er ist es, der im Vertrauen auf Gott und mit einer inneren Freiheit gegenüber den Menschen, die ihm nahestehen und die ihn begleitet haben, auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem dort angekommen ist. Er hat sich von allem gelöst, was ihn an die Menschen und an diese Welt gebunden hat. Er hat sein Leben, sein Geschick ebenso ganz in Gottes Hand gelegt wie diese Witwe.

Und was ist mit meinen Schwächen?

Die Geschichte der Witwe am Opferkasten im Tempel ermutigt mich zu einem neuen Umgang mit meinen eigenen Schwächen. Wie wäre es, wenn ich meinen Mangel, meine Scham, meine Ohnmacht, meine Schwächen, meine Unsicherheit und meine Armut mit in diesen Opferkasten hineinlege? Wie wäre es, wenn ich das, worüber ich mich ärgere und das, worüber ich stolpere, ebenfalls mit hineinlege? Da liegt es nun, zusammen mit all dem, was andere Menschen schon vor mir und mit mir da hineingelegt haben.

Ein Backofen voller Liebe

Martin Luther hat in seiner Bibelübersetzung an dieser Stelle den Begriff "Opferkasten" mit dem Wort „Gotteskasten“ übersetzt. Zusammen mit Martin Luthers Beschreibung von Gott als einen „glühenden Backofen voller Liebe“ wendet sich das Bild noch einmal. Ich stelle mir einmal diesen Opferkasten als einen Backofen vor, der aus einem unförmigen Teigklumpen ein gut duftendes Brot werden lässt, das mich und andere ernährt.

Ist es nicht Gottes Liebe in diesem Backofen, der ich meinen Mangel, meine Armut, meine Unzulänglichkeiten, meine Ohnmacht, meine Scham, auch meinen Schmerz darüber anvertrauen kann? Ist es nicht Gottes Liebe, die mich Vertrauen zu ihm finden lässt? Ist es nicht diese Liebe, die mir eine innere Freiheit schenkt, sodass ich mich lösen kann von all dem, was mich bindet und hindert? Und ist es nicht diese Liebe, der ich mich vorbehaltlos hingeben kann, weil sie wie keine andere Liebe, niemals das Ihre sucht?

Mit nichts vor Gott sein

Die Geschichte von der Witwe im Tempel hat mir noch etwas anderes wichtig werden lassen. Gerade Menschen wie sie zeigen mir, auf was es wirklich ankommt. Es sind Menschen, die sich ganz Gott anvertrauen können. Es sind die, die ihre Defizite und Schwächen nicht vor den anderen verbergen müssen, sondern offen und frei dazu stehen können. Es sind die, die nicht viele Talente und Reichtümer haben, sondern die nichts anderes mitbringen als sich selbst. Auf solche Menschen bin ich immer wieder in christlichen Gemeinden gestoßen.

Sie sind mir ein Bild dafür, dass vor Gott nichts anderes zählt als allein der nackte Mensch. Es sind die Menschen, die den Reichtum einer Gemeinde ausmachen, die mit leeren Händen vor Gott stehen und darum alles von ihm erwarten können. Sie erinnern mich daran, dass auch Gott nichts anderes getan als sich als bloßer, nackter Mensch in die Hände der Menschen zu begeben. Das beschreibt die Seligpreisung von Matthäus: „Glückselig sind die, die wissen, dass sie vor Gott arm sind. Denn ihnen gehört das Himmelreich.“ (Mt 5,3) Amen.

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