Pharisäer und Zöllner im Tempel
Glaubensimpuls

Einer, den sie spöttisch einen "methodist" nennen, sitzt in der Sonntagsmesse der Unikirche von Oxford. Und nach dem Gottesdienst bleibt er, Jack, noch etwas sitzen, weil er müde und erschöpft ist. Die beiden letzten Nächte waren sie wieder unterwegs, mit dem Holy Club. John, Charles und George vorneweg, geradewegs ins Rotlichtviertel. Als Medizinstudent ist Jack ein Sonderfall im Heiligen Club mit seinen ganzen eifrigen Theologen wie den Wesleybrüdern, aber immer vonnöten, egal ob bei ihren Hilfsaktionen im Armenviertel oder wie die letzten zwei Nächte bei den Frauen. Zorn überkommt ihn, als er daran denkt, wie er Sandy eine Stunde lang zugehört hat, sie ihm ihr Leid geklagt hat und der Zuhälter plötzlich kam und sie aufforderte, endlich weiterzuarbeiten. Nichts weiter konnte er für sie tun, als ihre Tränen abwischen. Jack öffnet die Augen, blickt zum Altar, stellt sich vor, wie er den Zorn ablegt. „Es nützt doch nichts“, sagt er still zu Gott, „ist der Zuhälter nicht auch nur ein Opfer der Umstände? Müsste ich dich nicht auch für ihn um Erbarmen bitten?“ In sein tiefes Ausatmen mischt sich ein Seufzer, fast ein Schluchzer. Jack dreht sich um und traut kaum seinen Augen: Da sitzt in der letzten Bank dieser Zuhälter von gestern, weint und betet. Alle Szenen der Nacht, alle Wut steigt in Jack hoch. Ein lauter Seufzer kommt über seine Lippen und hörbar murmelt er: „Danke Gott, dass ich nicht so bin wie dieser Typ da. Danke, dass ich das Richtige tue und denen helfen kann, die durch ihn Schaden nehmen.“ In der leeren Kirche kann jeder die Worte hören und der Mann in der letzten Bank sinkt noch tiefer in sich zusammen. Ein verzweifeltes „Sei meiner Seele gnädig“ klingt durch die kalte Luft. Als Jesus die Szene betritt, wirft er dem hinauseilenden Methodisten einen strengen Blick zu, während er sich zu dem Zuhälter in der letzten Bank setzt. (Diese Geschichte ist ausgedacht. Jack und Sandy gab es nicht, die anderen Genannten, ihren Holy Club und ihr soziales Engagement, vor allem nach ihrer Studienzeit, allerdings schon.)
Pharisäer
Liebe Gemeinde, niemand will ein Pharisäer sein. Sie sind nicht nur sprichwörtlich geworden, sondern auch eine Kaffeespezialität, die den sündigen Schuss Alkohol im Espresso mit einer dicken Schicht weißem Schlagobers überdeckt. An meiner Übertragung der gleichnishaften Begebenheit in die Anfänge des Methodismus im 18. Jahrhundert habt Ihr vielleicht schon gemerkt: Die Geschichte ist etwas komplexer. Der sich rühmende hochmütige Pharisäer auf der einen und der demütige arme Zöllner auf der anderen Seite – so einfach ist es nicht. Und so einfach sollten wir es uns auch nicht machen, denn diese und andere Geschichten im Neuen Testament haben dazu beigetragen, hasserfüllte Stereotype zu nähren: Da ist dann der Pharisäer der Jude schlechthin und Juden meinen ja, sie seien die Auserwählten und halten ihre Werkgerechtigkeit hoch, aber am Ende sind sie genau so wie alle anderen und tun nur ordentlich Schlagobers drüber. Christen haben es – zum Beispiel durch diese Geschichte – nun aber besser gelernt und sind demütig wie der Zöllner. Und damit besser vor Gott angesehen. In der christlichen Ikonographie wurde die Erscheinung des Zöllners mit der Zeit immer ärmlicher und demütiger, die Figur des Pharisäers immer stolzer, prächtiger gekleidet, seine Nase immer größer und krummer. (Vgl. La Delfa, Angela: Die Pharisäer in der Malerei, S. 331-333, In: Sievers, Levine, Schröter (Hrsg.): Die Pharisäer. Geschichte und Bedeutung. Herder, 2024.)
Im Gegensatz zu der Geschichte von Jack habe ich mir Letzteres leider nicht ausgedacht, so wurde und wird dieser Bibeltext ausgelegt. Schauen wir uns zuerst den Zöllner an. Das ist kein bemitleidenswerter Mensch. Das ist ein Mensch, der entgegen den biblischen Geboten und des damaligen moralischen Konsens von Zoll und Zins lebt, die er seinen Mitmenschen, seinen Mitjuden abnimmt. Mit diesem Beruf kam man damals recht schnell an gutes Geld, musste den römischen Besatzern aber loyal sein, Geld an sie abtreten – ja, und eben seine Mitmenschen dafür ausnehmen. Durch den niedlichen kleinen Zachäus im Maulbeerbaum ist meine Vorstellung von Zöllnern aber so romantisiert, dass ich ihn durch einen Zuhälter ersetzt habe.
Und die Pharisäer? Das war eine kleine, eher lose organisierte Gruppe von Judäa bis Galiläa. „Sie verstanden sich nicht als das einzig wahre Israel und wollten nun offensiv alle anderen Juden dazu bringen, ihr Judentum genauso wie sie zu leben. Sie verstanden sich nicht als der „heilige Rest“, sondern als der „heiligende Rest“. Sie wollten wie Sauerteig sein, der den ganzen Teig heilvoll durchsäuert. Ihr Bemühen galt dem Volk, dem sie den Weg zu einem Gott wohlgefälligen Leben vorlebten und lehrten. Ihr Bemühen um Einfluss in den Synagogen und Schulen, im Gericht und im Tempel […] diente darum nicht einem wie auch immer gearteten Streben nach Macht oder Statusgewinn, sondern dem Heil und der Wohlfahrt ihres Volkes.“ (Deines, Roland: Aspekte der Forschungsgeschichte, S. 422. In: Sievers, Levine, Schröter (Hrsg.): Die Pharisäer. Geschichte und Bedeutung. Herder, 2024)
Nach allem, was ich an neuerer Forschungsliteratur über die Pharisäer gelesen habe, scheint mir der Vergleich mit den Methodisten des Holy Club an der Universität Oxford gar nicht so weit hergeholt. Als John und Charles Wesley sich mit einigen anderen für regelmäßiges Bibelstudium, Gebet und für Hilfsaktionen zu treffen begannen, wollten sie nicht die einzig Gerechten sein, nicht die neue Kirche von England. Sie verstanden sich als Berufene, die den Sauerteig bilden, die Kirche positiv beeinflussen. Es gab in der Geschichte der Gläubigen, unabhängig von Religionen, immer wieder solche Menschen, die vom Wort Gottes so gepackt und berührt wurden, dass sie mehr als die meisten anderen spirituell und sozial aktiv wurden.
Hatte Jesus daran etwas auszusetzen? Sicherlich nicht. Er befand sich immer mal wieder in Diskussionen mit Pharisäern – genauso wie mit anderen. Er heißt das auch nirgends in den Evangelien gut, er vergleicht sie mit Kranken, die ihn als Arzt brauchen.
Was also hat Jesus für ein Problem mit diesem Pharisäer? Sein Lebenswandel kann es nicht sein.
Gebet
Schauen wir auf das, was der Pharisäer sagt: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.“ Er zählt auf, was er Gutes tut, wobei das Geben des Zehnten im krassen Gegensatz zum Zöllner steht: Der eine nimmt Geld, der andere gibt von seinem ab.
Mir kam bei diesem Gebet kein abgehobener reicher hochnäsiger Protz in den Sinn, ich dachte zuerst an Pyramiden und einen toten Pharao. Na gut, da gibt es vielleicht doch Verbindungen… Aber: Von diesen altägyptischen Pharaonen haben wir in Totenbüchern eine Art von Gebeten überliefert, die den Toten begleiten sollten. Darin beteuern Verstorbene vor den Totenrichtern ihre Unschuld – sogenannte "Negativbekenntnisse". Sie zählen auf, was sie alles nicht getan haben, um im Totengericht zu bestehen, wenn ihr Herz gegen die Feder der Gerechtigkeitsgöttin Ma'at gewogen wird. Solche Rechtfertigungslisten finden wir noch in Spuren im Alten Testament wie auch in Briefen des Neuen Testaments (2. Tim 4,6-8). Doch die dominierende Gebetspraxis dort ist eine ganz andere: Besonders in den Psalmen, aber auch Bußgebeten von Daniel oder Nehemia – überall geht es um das ehrliche Bekenntnis der eigenen Schuld vor Gott, um das Angewiesensein auf Gottes Barmherzigkeit. Das ist die Tradition, in der Jesus und der Pharisäer aus der Geschichte stehen. Der Zöllner betet nicht "christlicher" als der Pharisäer – er betet jüdischer. Daran erinnert Jesus mit seinem prägnanten Merksatz: „Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ Das Problem ist für Jesus nicht der Pharisäer an sich, sondern was er in dieser Sekunde tut: Er macht einen auf ägyptisches Totengericht, mehr noch: er rühmt sich hörbar vor dem, welchem er doch eigentlich durch Gebet, Vorbild und Engagement helfen möchte. Er ist nicht der Arzt, der Jesus für den metaphorisch kranken Zöllner Zachäus sein möchte. Der Pharisäer heiligt den Zöllner in diesem Moment nicht, sondern setzt ihn herab. Und damit verstößt er nicht nur gegen seine eigenen erklärten und in der Tat guten Ziele, sondern ist wie der Zöllner selbst: Er bereichert sich an seinen Mitmenschen – nicht finanziell, sondern sozial und spirituell. Und das zieht bei Gott genauso wenig.
"Mai nafka mina" (aramäisch; aus dem babylonischen Talmud): "Was lernen wir hieraus?"
Was lernen wir aus der Geschichte – der biblisch überlieferten und deren historischen Hintergründen?
1. Die Geschichte ist etwas komplexer, als sie auf den ersten Blick scheint.
2. Mittelmaß ist auch okay
Wahrscheinlich können sich die wenigsten von uns mit dem Pharisäer oder dem Methodisten der ersten Stunde identifizieren, auch wenn wir bestimmt einen kleinen Anteil davon in uns tragen, der uns anspornt, für Gott und die Mitmenschen das Beste zu tun. Wenn uns das mal vorbildlich gelingt, oder es anstrengend war, dann dürfen wir uns dafür auf die Schulter klopfen, auch ein Lob annehmen. Aber nicht mit unserer Hilfsbereitschaft prahlen und am allerwenigsten vor denen, denen sie gilt. Das setzt die Hilfsbedürftigen herab, statt ihnen zu helfen. Dann wird das gut soziale und geistliche Engagement wie das des Methodisten oder das des Pharisäers hohl, man könnte fast sagen: a-sozial.
Wahrscheinlich können sich auch die wenigsten von uns mit dem Zöllner oder dem Zuhälter identifizieren. Vielleicht habt Ihr aber schon beim ersten Hören heute ein diffuses Gefühl gehabt, dass dies das Ideal ist. Immerhin sagt Jesus „Wer sich selbst erniedrigt…“. Bei uns im Kindergottesdienst waren die Zöllner jedenfalls immer die Helden, so sollte man sein: Wenn man ganz unten ist, sich dazu bekennen, dass man ein armer, elender Sünder ist und gerettet werden möchte – schwupps, ist man der Tollste, der Gerechtfertigste von allen. Problem: Weder als Kind noch jetzt habe ich Menschen ausgebeutet oder sie um ihr Geld betrogen. Nicht, dass ich fehlerfrei wäre, aber beruflich meine Mitmenschen ausnutzen und betrügen? Nein.
Muss ich erst so „niedrig“ sein, um vor Gott gerechtfertigt zu werden? Manche Christen haben das zum Ideal erhoben: Einer erzählte mir: Im pietistischen Schwabenland der 1980er Jahre schauten die jungen Christen mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid zu den Christen in der DDR, die es so schwer hatten – das waren doch noch richtige Christen, die trotz staatlicher Repressalien ihren Glauben lebten. Und die Christen in der DDR? Die schauten mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid zu den Christen in der UdSSR und der Volksrepublik China, die es so schwer hatten – das waren doch noch richtige Christen, die trotz staatlicher Repressalien ihren Glauben lebten. Sich nicht nur demütig vor Gott geben, sondern am besten selbst leiden oder wenn es einem zu gut geht, sich absichtlich in Leiden begeben – die mittelalterliche Geißel lässt grüßen.
Je mehr man leidet, desto besser steht man vor Gott da? Man kann sich das in seinem gemütlichen bürgerlichen Leben ab und zu vor Augen halten, so wie Jesus dies seinen reichen Mitmenschen immer mal wieder deutlich gesagt hat. Wenn man es zum Ideal erhebt, führt es zu einer Leidhierarchie oder gar dahin, sich selbst leiden zu lassen.
Weder Zöllner, noch Pharisäer. Wahrscheinlich sind die meisten hier, was Eifer, Engagement sowie das Ausbeuten von Mitmenschen, so wie ich – entschuldigt: Mittelmaß. Normalos. Wir finden uns in dieser biblischen Geschichte, deren Charaktere mit der Zeit zu Karikaturen überzeichnet wurden, nicht wieder. Meistens gibt einem die Pfarrerin die Geschichte als Zuspruch mit: Auch wenn du richtig in der selbstverschuldeten Misere steckst, auch dann gibt es bei Gott noch eine Chance. Oder etwas sonntagsschulmäßiger als Warnung – Pass auf, dass du nicht asozial wirst, während du dich sozial engagierst – oder noch schlimmer als Ideal: Demütige dich, denn erst im tiefen Leid kommst du zur Sündenerkenntnis und damit zur Rechtfertigung. Ihr könnt Euch davon etwas in die Rucksacktasche packen und rausholen, wenn es mal so weit kommt. Bis dahin können wir auch als Normalos zu Gott kommen.
3. Etwas über das Beten
Drittens: Wir lernen aus der Geschichte etwas über das Beten. Mit welchen Worten sollen, können wir zu Gott kommen? Die Selbstdarstellungsgebete haben ausgedient – das ist klar. Die meisten von uns stecken aber auch nicht in der Situation des Zöllners oder Zuhälters und wir müssen uns den Schuh auch nicht anziehen.
Gleichzeitig haben sich Christen 2000 Jahre ein Beispiel an dem Zöllner genommen und wer wie ich in einer besonders frommen Ecke aufgewachsen ist, der kennt vielleicht „Unterbietungsgebetsgemeinschaften“, das Gegenteil vom ägyptischen Totenbuch: Dort geht es still und heimlich darum, sich als besonders sündig darzustellen. Diese Tradition finden wir in ausführlichen Sündenbekenntnissen hinten in unserem Gesangbuch und in vielen Liedern davor. Der Demütigste gewinnt! Oder? Hat Jesus das gemeint?
In der rabbinisch-jüdischen Tradition nach der Zerstörung des zweiten Tempels und Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. wurde ein Gebet ausformuliert, welches es auch zur Zeit Jesu schon lange gab: Das sogenannte 18-Bitten-Gebet. Darin wird um vieles gebeten: um Regen für die Ernte und um Weisheit, um Vergebung der Sünden und um Heilung der Kranken, um die Sammlung der Zerstreuten und um die Auferstehung der Toten – das ganze Leben, vom Alltag bis zur künftigen Welt. Solche überlieferten Gebete bewahren vor den beiden Extremen: vor dem Rühmen und vor dem Sich-Kleinmachen. Sie geben uns Worte, die größer sind als unsere aktuelle Situation – und die uns gleichzeitig mit anderen verbinden. Mir hat vor sieben Jahren die Aussage eines jüdischen Lehrers über das 18-Bitten-Gebet einen ganz neuen Blick auf alte, traditionelle Texte aus Liturgie und Gebet gegeben – von den Psalmen über das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, Chorälen bis hin zu Texten aus unserer methodistischen Tradition. Den gleichen Text Tag um Tag beten, immer wieder die gleichen Lieder singen – darin kondensiert die Erfahrungen von verschiedensten Menschen und ihrem Leben vor Gott. Ich muss mich nicht immer mit allem identifizieren und trotzdem spreche ich es mit, denn es wird der Tag kommen, wo genau das mir wichtig wird. Ich muss mich nicht mit allem identifizieren und trotzdem spreche es mit, denn anderswo kann gerade das ein Mensch nicht beten – und für ihn ist es wichtig. So bewahren mich die überlieferten Texte nicht nur vor Geschwätz und heuchlerischem Rühmen oder Sich-Kleinmachen, so werden meine persönlichen Gebete ohne mein Zutun zugleich zu einer Fürbitte – zu einem Für-und-anstelle-von-anderen-beten.
Wir haben gehört, wie der Prophet Joel den gepeinigten Israeliten verkündet, dass Gott jeden erretten wird, der seinen Namen ruft. Nicht nur im Leid, auch nachdem Gott ihnen viel Gutes getan hat. Am jüngsten Tag steht laut Joel jeder Mensch, so wie er ist, vor Gott und es gilt nur: Hast du den einen Gott angerufen? Ich muss mich dann nicht rühmen, wie die ägyptischen Pharaonen, um gut dazustehen. Ich muss mich auch nicht demütigen und kleinmachen, wie manche Christen meinen. Wir können so ehrlich und mittelmäßig zu Gott kommen, wie wir sind. Die kleinen Dinge erzählen. Die normalen Erlebnisse des Alltags. Und das reicht.
Das folgende Lied (GB 282) formuliert ein Gebet, das eher aus der Zöllnerperspektive kommt: "So wie ich bin, komm ich zu dir, Herr, dein Erbarmen gilt auch mir. Du lösest mich aus Schuld und Tod: So komme ich, mein Herr und Gott." Und ich lade Euch ein, bei der instrumentalen siebten Strophe selbst ein stilles Gebet zu formulieren: So wie ich bin, komm ich zu dir – in meiner Situation, wie unspektakulär sie auch sein mag.
Amen
