Sammle meine Tränen in deinen Krug
Glaubensimpuls

Pastorin

Von den Tränen, die sind
Liebe Gemeinde,
Da sind sie, die Tränen. Sie sind heute da, mit uns. Hier, jetzt im Raum, denn vorhin haben wir sie zusammen gezählt. Und in den Krug gelegt (während der Kindergeschichte haben wir Glasnuggets als Tränen in den Krug gelegt und haben dabei an etwas gedacht, das uns in der letzten Woche traurig gemacht hat). 11 Stück waren es. Später kommen vielleicht noch welche dazu. Vielleicht sind sie auch da in euch drin, an diesem Tag am Ende des Kirchenjahres, an dem wir uns bewusst die Zeit nehmen, an Menschen zu denken, die wir vermissen. An Menschen, die nicht mehr sind. Vielleicht hat der ein oder die andere schon ein Tränchen verdrückt. Weil wir die Verbundenheit an solchen Tagen so deutlich wahrnehmen. Die Verbundenheit mit denen, die vor uns gegangen sind. Und die Liebe, die uns verbindet und die ja nicht einfach aufhört, wenn einer stirbt. Wenn eine nicht mehr ist. Die Liebe, die wunderschön ist und manchmal genau deshalb schmerzt.
Von den Tränen, die sich wandeln
Die Tränen. Auch in den Lesungen sind sie vorgekommen: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“ So beten die Menschen in Psalm 126. So haben wir miteinander gebetet. „Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“ Tränen kommen und gehen. Der Schmerz kann sich wandeln. Wir werden nicht ewig weinen. Davon singt dieser Psalm. Die Tränen sind da ein Zeichen dafür, dass jetzt eben noch nicht alles einfach gut ist. Oder gar „sehr gut“. Der neue Himmel und die neue Erde, die sind noch nicht da. Letzte Woche haben wir von ihnen geträumt (mit Jesaja 65). Haben von Wolf und Lamm gehört, die nebeneinander weiden und davon, dass wieder alles „sehr gut“ ist, in dieser neuen Welt, die Gott schaffen will. Dort gibt es keine Tränen mehr. So behauptet es am Ende unserer Bibel der Seher Johannes in seiner Offenbarung. Auch seine Worte habt ihr, haben wir, vorhin gehört: "und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ Einmal nimmt Gott selbst ein Taschentuch, das letzte Taschentuch, das es gibt, und er wischt alle Tränen ab. Die Tränen der Verzweiflung und die Tränen der Trauer. Die Tränen der Wut. Die Tränen des Schmerzes und der Angst. Die Tränen der Rührung – vielleicht sogar die. Jedenfalls fühlen sie sich nicht mehr peinlich an. Gott kümmert sich auch um sie und sagt: Ist doch alles in Ordnung. Alles ist wieder gut. Alles ist ganz. Ganz und heil. Auch du. Gott wischt sogar die Tränen ab, die nie geweint worden sind. Und niemand braucht danach noch einmal ein Taschentuch. So wird es sein.
Von den Tränen hier und jetzt
Ach ja. Nur dass es jetzt noch nicht so ist. Ich brauche selber noch ein Taschentuch dann und wann, nicht nur beim Zwiebelschneiden, oder ich reiche eines meinem Nachbarn, meiner Nachbarin, wenn ich sehe, wie ihre Augen feucht werden und sie ein bisschen schnieft. Ja, was ist jetzt? Was ist jetzt, an so einem Tag, an dem die Tränen da sind, unter uns, und an dem wir uns erinnern, an Schönes, an Schmerzhaftes, an so viel Gutes, das war, an dem wir dankbar sind für Menschen und zugleich traurig, weil sie nicht mehr da sind?
Vom Zählen der Tränen und von Gott
„Sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie.“ (Psalm 56,9)
Die Tränen. Vorhin haben wir sie gezählt und in den Krug gelegt. Natürlich können wir Menschen in Wirklichkeit keine Tränen zählen. Wenn das so einfach wäre, das wär manchmal schön. Das Leben wär nicht mehr so unübersichtlich oder gar chaotisch. Nicht mehr so überwältigend: Wenn wir Tränen zählen könnten und was uns bedrückt. Einfach alles zählen, was an einem nagt. Und damit alles ordnen. Alles in eine Reihenfolge bringen, in Zahlen und Ziffern. Eins nach dem anderen. Ordnen, ablegen und alphabetisch sortiert. Beruhigend wäre das. Aber die Tränen! So sind sie nicht. Sie verschwimmen und sie werden zu einem Bach und vielleicht sogar zu einem See. Wie soll man sie zählen! Woher kommt die Geborgenheit, die man sich selbst nicht geben kann?
„Sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie.“
Eine nach der anderen. So stellt der Beter von Psalm 56 sich das vor.
Gott tut, was kein Mensch tun kann. Gott zählt sie, die Tränen. Geduldig und genau. Er nimmt jede einzelne wahr. Jede einzelne ist ihm kostbar und jede einzelne nimmt er behutsam auf. Wie einen Schatz. Ganz vorsichtig, weil du selbst drin steckst.
Dann legt er sie in seinen Krug. Einen Schatz der Erinnerung. Einen Schatz, der dich zu der Person macht, die du jetzt gerade bist.
Davon, was Tränen sind
„Sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie.“ (Psalm 56,9) Sammle alle Tränen, Gott. Jede einzelne ist wichtig.
Tränen sind Erinnerung. An das, was war. An die Verbundenheit, tief in einem drin.
Man sieht die Apfelblüte, die er so gern mochte, und die Augen werden feucht.
Man sieht das Nachbarskind, und es ist so in sich versunken im Spiel und man weiß nicht, warum, aber etwas in ihm rührt einen an, rührt einen an in der Seele und man braucht auf einmal doch wieder ein Taschentuch. Dummerchen, schimpft man sich dann, du warst doch früher nicht so nah am Wasser gebaut.
Oder man hört dieses Lied, ganz leise aus der Ferne, und war es nicht das, was sie so mochte? Es ist, als ob es einem singt von der Zeit, die man miteinander hatte und der Klang geht vom Ohr bis ins Herz, und da ist die Stille der Abwesenheit, und aus Klang und Stille wird eine Träne, die sich ihren Weg durch die Augenwinkel bahnt.
Manchmal kommen die Tränen aus dem Nichts. Sie treffen einen und man hat vorher nicht daran gedacht.
Manchmal hat man es schon längst geahnt, dass sie wieder kommen werden. An diesem einen Tag im Jahr. Oder vielmehr: An diesen Tagen. Geburtstag. Todestag. Und es gibt die Tage davor, an denen man in sich spürt, was da noch ist und wieviele Tränen da noch sind. Man trägt schwer an ihnen und es ist, also ob sie feststecken in einem drin und man möchte weinen, aber es geht nicht. Mit der Zeit wird die Traurigkeit anders, sie gehört nun dazu, fast wie eine alte Bekannte, aber manchmal drängt sie sich nach vorne und bringt die Tränen mit. Überreicht einem so ein Päckchen voll davon und manchmal denkt man sich, was soll ich jetzt damit, ich kann das gerade gar nicht brauchen, und dann wieder spürt man: Da sind ja nicht nur Tränen drin. Da ist auch die Liebe. Die Verbundenheit, die bleibt. All das, wovon die Tränen erzählen.
Die Liebe, die Tränen und all das, das war: Es gibt Tage, da überkommt es einen. Man liegt im Bett und das Kissen wird nass, der Atem geht schwer, und danach ist man einfach erleichtert. Wenn man aufsteht, fühlt es sich beinahe nach Auferstehung an.
Dann gibt es auch das: Man fühlt sich einfach nur leer. Dumpf und taub. All die Tränen: Ausgeweint. Wenn man noch welche hätte. Auch das gibt es im Leben.
Nicht immer werden Tränen geweint. Die Zeit heilt vielleicht nicht alle Wunden, aber sie legt zumindest ein Pflaster drüber, einen Verband, oder es entsteht eine Narbe, wie auch immer, jedenfalls ist man ja meistens nach einer Zeit nicht mehr ganz so nah am Wasser gebaut. Man könnte so ja nicht leben.
Und nicht alle Menschen sind den Tränen nahe. Es gibt ja auch die verborgenen Tränen, die, die keiner sieht und die niemals den Weg in die Welt hinaus finden. Tränen sind Schmerz. Tränen sind Liebe. Und dann sind sie manchmal lästig. Weil es nicht immer so einfach ist, weich zu sein in sich drin. Weil wir das Festhalten, das „Stell dich nicht so an“, das „Heul nicht so rum“, oder das „Jungen weinen nicht“ so gut gelernt haben. Weil wir brave Kinder sind, die es ihrer Mutter nicht noch schwerer machen wollen. Weil wir starke Kinder sind, die sich keine Blöße geben wollen.
Bitte, Gott
„Sammle meine Tränen in deinen Krug.“ Eine Bitte.
Sammle meine Tränen, Gott: Die Tränen über die, die man verloren hat. Die Tränen über das, was nicht mehr wird. Die Tränen der Verzweiflung. Die Tränen der Hoffnung, die vergeblich war. Die Tränen der Wut über die Machtlosigkeit, die man gespürt hat am eigenen Leib. Die Tränen über das Verlassensein. Die Tränen, die aus der Tiefe kommen in einem selbst.
Sammle sie, Gott. In deinem Krug. Träne für Träne legst du hinein. Die vielen geweinten. Träne für Träne, in deinen Krug. Auch die Ungeweinten, die, die man verdrückt hat.
Die, die nicht durchkamen, weil man doch stark sein wollte. Musste. Die, die noch geweint werden und die, für die es keine Kraft mehr gibt.
Sammle, zähle und pass gut auf alles auf
„Sammle meine Tränen in deinen Krug.“ „Du zählst sie“: Träne für Träne. Eine nach der anderen. Atemzug um Atemzug.
„Sammle meine Tränen in deinen Krug.“ Bewahre ihn. Bis zum Ende meines Lebens. Halt ihn fest. In deiner Hand, geborgen. Mit allem anderen, das auch noch war. Das ist, in seinen Händen.
Es war ja so viel mehr: Das Lachen. Das gemeinsame Kochen. Der Anruf, an jedem Sonntag, und die vertraute Stimme, die fragt: "Na, wie läuft’s bei dir so?" Das Kleid, das ihr so gut stand. Die Dankbarkeit für das, was man geteilt hat. Die Geschichten. Die Tage voller Liebe. Der Urlaub am Strand. Die Wanderung, bei dem ihm das Loch in die Hose geraten ist und noch Monate später hat man darüber gelacht. Die Versöhnung nach einem Streit.
Alles, was ein Leben war. Und für uns noch ist. Es ist ja so viel mehr. Lasst uns das nicht vergessen: Was zwischen uns war und was zwischen uns noch ist.
Lasst uns auch daran erinnern.
Bis in die Ewigkeit
Irgendwann einmal wird alles neu. Gott wird abwischen alle Tränen. Und neue kommen nicht mehr dazu. Ob der Krug dennoch bleibt, bei Gott? In seiner Hand. Er wirft ihn nicht fort. Weil Gott nicht fortwirft, was kostbar ist. So denk ich mir das.
Alles hat er aufgesammelt. All das, was zu einem Leben gehört. Alles hält er in der Hand: Das Schwere und das Leichte. Die Traurigkeit und die Freude. Die Hoffnung und die Angst. Was zerbrochen ist und was heil blieb. Was wir sehen und was verborgen ist vor uns. Das Leben, wie es ist.
Gott hat es doch gesehen. Ganz genau. Alles gezählt und alles beieinander. Geborgen ist alles bei ihm. Er hält es in den Händen, sanft, weil Gott weiß, wie zerbrechlich das Leben ist und seine Menschen. Behutsam und liebevoll hält Gott alles in seiner Hand. Er liebt, wen er geschaffen hat. Er liebt von ganzem Herzen.
„Sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie.“ Es ist eine Hoffnung für diese Welt. Für dich, für mich, für uns. Für die Zeit, in der wir leben und in der wir sind. Es ist eine Hoffnung, die bis ins Jenseits geht: Gott hält alles in seiner Hand. Gott hält in der Hand, wen wir vermissen. Behutsam und mit Liebe. Er macht heil und ganz. Das, was war. Und einmal dich.
„Sammle meine Tränen in deinen Krug.“
Bis du sie abwischen wirst, Gott. Bis ewige Freude ist. Bis in die Ewigkeit. Amen