"… und seine Zunge wurde gelöst"

Glaubensimpuls

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Esther Handschin

Pastorin, Erwachsenenbildung


Predigt zum Lobgesang des Zacharias, Lukas 1,67-79

Ein Verstummter spricht wieder

Was muss das für eine Erlösung gewesen sein! Mit der Geburt seines Sohnes Johannes hat Zacharias endlich wieder seine Sprache gefunden. Neun Monate lang ist er verstummt. Der Bauch seiner Frau Elisabeth ist gewachsen. Aber er konnte seiner Freude darüber keinen Ausdruck verleihen. Der beide Eltern zermürbende Makel der Kinderlosigkeit war dahin, aber er konnte nicht darüber sprechen. Neun Monate, eine ganze Schwangerschaft lang, war er zum Schweigen verurteilt, weil er es nicht fassen konnte, dass ihm der Engel die Geburt eines Sohnes verheißen hat. Und dann endlich die Erlösung: Zacharias gibt den Namen seines Kindes bekannt. Johannes soll sein Sohn heißen, das bedeutet: Gott ist gnädig. Ja, diese Gnade Gottes hat Zacharias sehr direkt an sich selbst erfahren. Er findet seine Sprache wieder. Sein Mund wird aufgetan, seine Zunge wird gelöst, heißt es in der Erzählung über die Geburt von Johannes dem Täufer im 1. Kapitel des Lukasevangeliums in Vers 64. Jetzt muss er reden, erzählen und Gott loben.

Was Maria und Zacharias verbindet

So stimmt Vater Zacharias einen Lobgesang an. Es sind seine Worte und doch nicht seine Worte, die wir hören. Denn der Lobgesang des Zacharias, das sogenannte „Benedictus“, ist durchdrungen von Worten und Bildern aus den Psalmen. Nach der Sprachlosigkeit der vergangenen Monate leiht sich Zacharias die Sprache der Psalmen, um auszudrücken, was ihn bewegt. Nicht viel anders hat es schon Maria gemacht, die Cousine seiner Frau Elisabeth. Auch sie hat ein Loblied angestimmt, das sogenannte „Magnificat“. Und auch sie hat sich dazu aus den Bildern und dem Sprachschatz der Psalmen und biblischen Lobliedern bedient. Beide, Zacharias und Maria, erzählen von der Barmherzigkeit, mit der Gott seinem Volk Israel und den Menschen begegnet. Beide erzählen von Abraham, dem Stammvater Israels, dem Urvater des Glaubens und von dem, was Gott Abraham verheißen hat: eine Nachkommenschaft, die Bestand hat und ein Land, in dem er mit seiner Familie wohnen kann. Beide, Zacharias und Maria, erzählen von den Momenten der Rettung, die sie selbst und als Zugehörige zum Volk Israel erfahren haben. Erinnerungen an das Schilfmeer werden wach, wo die Israeliten den feindlichen Ägyptern durch das Meer entkommen konnten. Niedrige werden aufgerichtet, Hungrige bekommen zu essen, Verfolgte werden von ihren Feinden gerettet.

Sich erinnern

Zacharias entfaltet seinen Lobgesang in zwei Teilen. Im ersten Teil schaut er zurück auf das, was Gott getan hat. Es sind Erinnerungen an Gottes Geschichte mit seinem Volk. Hier wird erzählt von Rettung aus großer Not und von Verheißungen, die ausgesprochen worden sind. Kein Wunder, dass für Zacharias diese Erinnerungen wichtig sind. Denn sein Name bedeutet: „Gott hat sich erinnert.“

Und heute? 

Die Erinnerungen, die Zacharias erwähnt, sie dienen nicht bloß der Nostalgie und dem Rückblick auf bessere Zeiten. Wer sich an Gottes Wirken erinnert, wer sich das vor Augen führt, was er oder sie selbst oder andere Menschen mit Gott erlebt haben, der schaut auch in die Zukunft. Warum sollte Gott nicht in ähnlicher Weise wieder so handeln? Warum dürfen wir von ihm nicht auch erwarten, dass er uns rettet vor dem, was uns feindlich entgegensteht? Warum sollte Gott nicht auch uns mit Barmherzigkeit begegnen? Warum gelten sein Bund, seine Zusagen, seine Treue nicht auch denen, die heute und jetzt leben, auf Gott vertrauen und nach seinen Geboten leben?

Bilder der Zukunft im Herzen tragen

Die Erinnerung an das Vergangene eröffnet eine neue Zukunft. Das ist eine alte Erfahrung, die das Volk Israel immer wieder gemacht hat. Und diese Erfahrung ermöglicht auch uns ein neues Leben. In der Zeit des Advents erinnern wir uns mit Texten aus den prophetischen Büchern der Bibel an das, was uns verheißen ist. Vielfältig sind die Bilder, die vor unseren Augen entstehen: dürre Wüsten werden wieder blühen; das Lamm und der Wolf liegen friedlich beieinander als Zeichen des künftigen Friedens; wo unwegsames Gelände war, entstehen neue Straßen und Wege, die dem kommenden Herr den Weg bereiten; aus einem abgestorbenen Wurzelstock wächst ein neuer Zweig hervor, damit wir wahrnehmen wie Gott Neues schafft; ein Säugling spielt gefahrlos am Eingang zu einer Schlangenhöhle – so sollen Kinder auch in Zukunft in Sicherheit aufwachsen können.

Gestaltung der Gegenwart 

Doch diese Bilder, die aus der Vergangenheit hervorgeholt werden und uns die Zukunft beschreiben, sie gestalten auch unsere Gegenwart. Denn wer ein Zukunftsbild im Herzen trägt, wie es auf dieser Erde aussehen könnte, der oder die verhält sich anders in der Gegenwart. Gerade jetzt brauchen wir solche Bilder, um die gegenwärtige Situation auszuhalten und gut zu gestalten. Wenn die Tage kürzer werden und das Dunkel überhand nimmt, so tröstet uns die Botschaft vom Licht, das in dieser Welt erschienen ist. In der Kälte des Winters wärmt uns die Erinnerung an die Wärme des Sommers. Wenn wir uns mit Unverständnis begegnen und mit Gegenargumenten bekriegen, ob eine Impfung nun das Richtige sei oder nicht, dann hilft uns die Erinnerung an gute Gespräche, dass wir aktuell unsere Wortwahl prüfen und unsere Zunge zähmen. Wenn wir Sorge tragen um Menschen, deren dringend notwendige Operationen aufgeschoben werden aufgrund der vollen Spitalsbetten, dann klammern wir uns an die Hoffnung, dass es heilvolles Leben gibt – auch für sie.

Im Kind die Zukunft sehen 

Diese vorweggenommene Hoffnung sieht Zacharias in dem Kind gegeben, das da in seinen Armen liegt und den Namen Johannes trägt. Die Nachbarn und umstehenden Menschen haben die Frage gestellt, die allen Eltern einmal durch den Kopf geht: „Was meinst du, will aus diesem Kindlein werden?“ Zacharias hat schon ein Bild vor Augen, was mit seinem Sohn einmal sein wird. So singt er im zweiten Teil seines Liedes davon: „Du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest.“

Vergebung eröffnet Zukunft

Damit dass Johannes den Weg für Jesus vorbereiten soll, ist eine wichtige Aufgabe verbunden: Erkenntnis des Heils zu geben durch die Vergebung der Sünden. Wo es eine Zukunft geben soll, da ist es wichtig das auszuräumen und das aufzuräumen, was im Weg steht. Es geschieht immer wieder, dass wir über Dinge hinweggehen oder hinwegsehen, von denen wir wissen, dass sie nicht in Ordnung waren. Erst später nehmen wir wahr, dass sie Entwicklungen verhindern, mit denen es auch eine gute Zukunft geben kann. In der Bibel wird die Bearbeitung solcher Hindernisse „Vergebung der Sünden“ genannt. Denn in der Bibel haben sich menschliche Erfahrungen zum Wissen verdichtet, dass Lasten aus der Vergangenheit die Zukunft beeinträchtigen. Und in der Bibel können wir nachlesen, dass uns diese Vergebung ist zugesagt durch Gottes barmherzige Gnade.

Gottes Barmherzigkeit

Im zweiten Teil seines Lobgesangs spricht Zacharias wie schon im ersten Teil von der Barmherzigkeit Gottes. Sie ist der Beweggrund Gottes, Schritte auf die Menschen zuzugehen, um sie von den Lasten der Vergangenheit zu befreien. So wie Gott seinem Volk gegenüber Barmherzigkeit gezeigt und sich den Israeliten zugewandt hat, so wird er sich auch den Menschen in der Zukunft zuwenden und denen, die in der Finsternis und im Schatten leben, das Licht aus der Höhe zukommen lassen.

Gott kommt zu Besuch 

Zweimal, sowohl im ersten Teil als auch im zweiten Teil, heißt es, dass Gott die Menschen besucht. Im ersten Teil hat Gott sein Volk besucht und erlöst. Das geschah in der Vergangenheit. Im zweiten Teil heißt es, wird uns „das aufgehende Licht aus der Höhe besuchen“. Das geschieht in der Zukunft. Gott kommt zu Besuch. Gott sucht die Nähe der Menschen. Er schaut bei uns vorbei. Er sucht uns auf. Er kümmert sich um uns. Er lässt uns nicht im Dunkeln sitzen.

Besuche werden von uns Menschen unterschiedlich erlebt. Während es für die einen ein Einbrechen in ihre vertraute Umgebung bedeutet und eine unerwünschte Störung in ihrem gewohnten Ablauf ist, so ist es für andere eine hohe Ehre und Freude, einen Gast in ihrem Zuhause willkommen zu heißen. Sie behandeln den Gast mit großer Zuvorkommenheit und kochen für ihn ein ganzes Festmenü. Wehe, wenn der Gast keinen Appetit hat und nicht ordentlich zulangt!

Biblische Besuchsgeschichten

Mit stehen zwei biblische Geschichten vor Augen, die uns von göttlichen Besuchen bei einzelnen Menschen berichten. Abraham erhält Besuch von drei Männern und erfährt dabei, dass Gott seine Verheißung erfüllt und er Vater eines Sohnes werden wird. Das verändert sein ganzes zukünftiges Leben. Auch Zachäus verändert sein Leben, nachdem Jesus sich bei ihm eingeladen hat und sein Gast war. Sein früheres Fehlverhalten bringt er in Ordnung. Wo er als Zolleinnehmer andere Menschen bisher finanziell ausgenommen, zahlt er ihnen den Schaden um das vierfache zurück.

Also: Nehmt euch in Acht! Wo Gott zu Besuch kommt, kann sich das Leben verändern, in die eine oder andere Richtung. Bei Abraham ist es das bewährte Vertrauen, das ihn eine neue Zukunft führt, ein Sohn wird ihm geboren werden. Zachäus wiederum wird durch den Besuch von Jesus mit seiner misslungenen Vergangenheit konfrontiert. Er ist bereit, diese zu bearbeiten und gewinnt so für sich eine neue Zukunft.

In der Gegenwart leben

Nun habe ich viel vom Handeln Gottes in der Vergangenheit gesagt und davon, wie daraus eine neue Zukunft vorbereitet wird. Aber was bedeutet das für die Gegenwart? Auch davon erzählt uns der Lobgesang des Zacharias. Gottes Handeln in der Vergangenheit führt dazu, dass wir Gott ein Leben lang dienen, und zwar „ohne Furcht“. Das war es auch, warum Mose das Volk Israel aus Ägypten herausgeführt hat: dass sie ihrem Gott dienen und ein Fest für ihn feiern. Und die abschließende Bitte in diesem Lobgesang ist es, dass „unsere Füße auf den Weg des Friedens“ gerichtet werden. Gott zu dienen und im Frieden mit den Menschen zu leben, das ist es, worum es im Leben geht, befreit von belastender Vergangenheit und mit hoffnungsvollen Bildern der Zukunft im Herzen, damit unsere Gegenwart zum Wohl aller gestaltet werden kann. Amen.

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