Von Jesus gehört und wahrgenommen
Glaubensimpuls
Pastor i.R.
Das Evangelium für den heutigen Sonntag ist die berührende Geschichte vom blinden Bartimäus auf dem Weg nach Jericho. Er ist ein Bettler. Er hört die vielen Menschen und erfährt von ihnen, dass Jesus von Nazareth vorbei geht. Und da beginnt er zu schreien: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich mein.“ Wann immer ich an diese Stelle komme und den Text lese, sehe ich ein Bild vor mir, das mich sehr beeindruckt hat. Der Maler des Bildes ist ein bekannter holländischer Künstler, Kees de Kort (*1934), der biblische Geschichten, vor allem für Kinder, illustriert hat. Sehr eindrückliche Bilder. Und da hat er den Bartimäus gemalt, der Bettler mit weit aufgerissenem Mund. Man hört fast den Schrei, wenn man das Bild ansieht. So eindrücklich ist das Bild.
Was vermittelt uns die Geschichte? Bevor ich näher auf diese Frage eingehe, möchte ich anmerken, dass der Evangelist Markus hier markante Akzente setzt, die die beiden anderen Evangelisten, Matthäus und Lukas, nicht haben. Sie erzählen diese Geschichte auch, aber etwas nüchterner. Markus überliefert uns den Namen und die Familienzugehörigkeit des Bettlers, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Und er erwähnt ein wichtiges Detail, den Mantel. Auch in anderen Berichten erwähnt Markus Details, die nur bei ihm vorkommen, etwa in der Geschichte von der Stillung des Sturms auf dem See, dass Jesus hinten im Boot auf einem Kissen schlief. Vom Kissen erzählt uns nur Markus. Das kann man leicht überlesen, aber solche Details machen das Bild bunt.
Von Jesus gehört
Was vermittelt uns also die Geschichte? Da sind Jesus und seine Jünger und eine Menge des Volkes. Wo so viele Menschen gehen und miteinander reden, ist es laut. Jesus sucht nicht den Beifall der Menge, aber er vertreibt sie auch nicht. Sie sammeln sich um Jesus, weil sie etwas erleben wollen, etwas Aufregendes, etwas Sensationelles. Jesus tadelt sie nicht deswegen. Jesus bleibt stehen. Durch alles Stimmengewirr und durch allen Lärm hindurch hört er den Schrei. Er hört die Not und er hört die Ernsthaftigkeit des Schreienden – und antwortet darauf. Das ist auch Ermutigung für uns. Auch wenn es nicht das stille Kämmerlein ist, sondern der Lärm der Straße und des Verkehrs, Jesus hört unser Rufen. Er hört die Stimme eines Menschen, der wirklich Jesus sucht und seine Hilfe erbittet.
Beim Namen gerufen
Der Evangelist Markus nennt uns den Namen des blinden Bettlers, Bartimäus. Was will uns Markus damit mitteilen? Der blinde Bettler ist nicht nur eine Nummer in einer statistischen Untersuchung. Er hat einen Namen, er gehört zu einer Familie, hat Eltern und Geschwister, hat eine Geschichte und vielleicht auch Pläne und Erwartungen im Blick auf seine Zukunft. Markus erinnert uns so, dass Gott Menschen beim Namen ruft, wie bei Samuel und wie bei Saul auf dem Weg nach Damaskus: „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ Und die besonders berührende Zusage Gottes durch den Propheten Jesaia: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.“ (Jes.43,1) Wir haben einen Namen und Gott kennt ihn. Und dann sind mir meine jüdischen Freunde und Bekannten eingefallen, denen in der Zeit der Naziherrschaft ihr Menschsein abgesprochen wurde. Sie wurden als Ungeziefer bezeichnet, das man vernichten muss. Das war ja das abgrundtiefe Böse der Naziherrschaft, dass den KZ-Häftlingen ihr Menschsein abgesprochen wurde. Ihre Namen wurden gelöscht, sie wurden zur Nummer degradiert und die Nummer wurde ihnen auf dem Unterarm eintätowiert. Aber wir sind Menschen und haben einen Namen. Daran erinnert uns der Evangelist, einfach, indem er den Namen des Bettlers nennt.
Bereit auf jeglichen Schutz zu verzichten
Und da ist die Erwähnung des Mantels. Ein unwichtiges Detail, das man auch übersehen kann? Nein, der Mantel signalisiert etwas Wichtiges. Als Einige zu ihm sagen: „Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!“ heißt es da: „Da warf er den Mantel von sich, stand auf und kam zu Jesus.“ Worauf macht uns der Evangelist aufmerksam? Der Mantel hatte für Arme eine lebenswichtige Funktion. Er war nicht nur einfach ein Kleidungsstück, sondern war auch Decke, die vor der Kälte in der Nacht schützte. Um das zu veranschaulichen verweise ich auf eine Regelung im Gesetz. Da lesen wir in 2. Mose 22,20: „Wenn du den Mantel deines Nächsten zum Pfand nimmst, sollst du ihn wieder geben, ehe die Sonne untergeht, denn sein Mantel ist die einzige Decke für seinen Leib; worin soll er sonst schlafen?“ Gott macht auf die Not der Armen aufmerksam und fordert Rücksichtnahme. Indem Markus den Mantel erwähnt und dass Bartimäus ihn von sich wirft, wird deutlich, wie ernst es ihm ist und dass er alle seine Hoffnung auf Jesus setzt.
Von Jesus gefragt und wahrgenommen
Und jetzt steht Bartimäus vor Jesus. Er sieht ihn nicht. Er hört nur seine Stimme. Jesus fragt ihn: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Bartimäus sagt: „Rabbuni, dass ich sehend werde.“ Jesus sagt zu ihm: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.“ Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm auf dem Weg.
Da stellen sich einige Fragen. Warum fragt Jesus den Bartimäus, was er für ihn tun soll? Sieht er nicht, dass er blind ist und dass er sehen will? Jesus fragt zu recht. Denn was einer braucht, muss er selber aussprechen. Was wir meinen, dass der andere braucht, muss nicht mit dem übereinstimmen, was der Betroffene selbst will. Darum ist es sehr wichtig, dass wir zuerst nach dem Bedarf fragen und auf die Antwort warten. Zwangsbeglückung ist nie eine Hilfe. Indem Jesus fragt, nimmt er den Bartimäus als Mensch ganz ernst.
Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Jesus verhält sich Menschen gegenüber in verschiedener Weise. Dem Blindgeborenen, von dem der Evangelist Johannes erzählt, streicht er einen Brei, den er aus Speichel und Sand angerührt hat, auf die Augen und schickt ihn zum Teich Siloah. Dort wäscht er sich den Brei ab und wird sehend. Beim Bartimäus sagt Jesus nur: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen“ – und Bartimäus wird sehend.
Glaube zeigt sich in vielerlei Weise
Und was ist das für ein Glaube, den Jesus dem Bartimäus zuspricht? Bartimäus hat kein Glaubensbekenntnis aufgesagt und keinen Psalm gesungen und Jesus nicht als Sohn Gottes bekannt. Sein Glaube kommt zum Ausdruck in seinem Schreien nach Hilfe und dass er sich nicht zum Schweigen zwingen ließ. Sein Glaube kommt zum Ausdruck, wie er den Mantel von sich wirft, sein wichtigstes Kleidungsstück, damit es ihn nicht hindert, rasch zu Jesus zu kommen. Sein Glaube kommt zum Ausdruck in seiner offenen und dringlichen Bitte um Heilung von seiner Blindheit: „Rabbuni, dass ich sehend werde.“ Und sein Glaube kommt zum Ausdruck, dass er nun Jesus auf dem Weg folgt.
Vor uns ist ein kurzer Text, der doch in erstaunlicher Weise und in aller Kürze Evangelium, Wort des Lebens, vermittelt. So können wir mit Charles Wesley singen:
Ihr Tauben, hört ihn! Stumme, singt!
Ihr seid zum Lob befreit.
Seht, Blinde, den, der Heil euch bringt!
Ihr, Lahmen springt vor Freud!