Der Vorhang ist aufgetan
Glaubensimpuls
Pastor i.R.
Karfreitag ist im Lauf des Kirchenjahres ein besonderer Tag. Christen in allen kirchlichen Traditionen gedenken der Gefangennahme, der Verurteilung, der Kreuzigung und der Grablegung Jesu. Zwei Textstellen werden immer gelesen, Jesaja 53, das Knecht-Gottes-Lied, wo es heißt: „Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünden willen zerschlagen.“ Und Psalm 22, wo der Beter zu Gott schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ In diesem Jahr werden außerdem Verse aus Hebräer 10 gelesen und Johannes 18-19, zwei ganze Kapitel. Für unsere Predigt heute hören wir das Zeugnis des Hebräerbriefes. Bevor wir uns den Text genau ansehen und seine Botschaft hören, mag es hilfreich sein, sich bewusst zu machen, dass alle Texte des Neuen Testamentes, die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und die Apostelbriefe, ein vielstimmiges Zeugnis darstellen für das Leben und Sterben Jesu. Sie alle wollen, jeder aus seiner Perspektive, verstehen, was Jesu Leben, Sterben und Auferstehen bedeutet. Und: Es gibt nicht eine richtige Antwort, es sind viele Antworten und wir sollen sie alle hören. Die Vielfalt der Stimmen wurde in den frühen christlichen Gemeinden als Reichtum erlebt.
Opfer sind nicht mehr nötig
Der Hebräerbrief deutet mit Bildern und Begriffen des Alten Testamentes das Leben Jesu. Das Alte Testament war ja die Bibel Jesu und der Verfasser des Hebräerbriefes bezieht sich auch auf die religiösen Ordnungen und Rituale Israels zur Zeit Jesu. Der Tempelgottesdienst fand regelmäßig statt. Regelmäßig wurden Tieropfer dargebracht. Der Hebräerbrief zitiert den Propheten Jeremia, der von einem neuen Bund spricht. Gott schreibt sein Gesetz ins Herz und vergibt alle Sünden und Missetaten. Wenn Gott Vergebung gewährt, dann sind Opfer nicht mehr nötig, sagt der Hebräerbrief. Das eine Opfer Jesu macht alle andern Opfer unnötig.
Der Hebräerbrief setzt voraus, dass seine Leser die Geschichte von der Kreuzigung Jesu kennen. Er bezieht sich darauf nur mit zwei Worten, „das Blut Jesu“ (V19). Aber er spricht davon, was der Tod Jesu am Kreuz für Auswirkungen hat, für unsere Beziehung mit Gott und zwischen den Glaubenden.
Jesus hat einen „neuen und lebendigen Weg“ in das Heiligtum, durch den Vorhang, eröffnet, also in die unmittelbare Nähe Gottes. Und damit wir Mut haben, in die Nähe Gottes zu treten, hat er uns „Freimut“ geschenkt.
Freimut ist eine Haltung, die sich ohne Angst zu Wort meldet und die ohne innere Zwänge, mit einer gewissen Leichtigkeit, Dinge tut, vor denen sich Menschen normalerweise fürchten. Und beim Freimut klingt auch ein Grundton von Freude an.
Der Vorhang ist aufgetan
Hier muss ich ein wenig erklären. Der Hebräerbrief kennt das Heiligtum und den Vorhang. Im Tempel hing ein prachtvoller Vorhang, der den Zutritt ins Allerheiligste abschirmte. Nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr das Allerheiligste betreten und ein Gebet verrichten. Das war Ausdruck der Ehrfurcht Gott gegenüber. In der Schrift wird immer wieder betont, dass niemand Gott sehen kann. Und nun erzählen die Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas, dass der Vorhang im Tempel von oben bis unten in dem Augenblick zerreißt als Jesus am Kreuz stirbt. An diesen Bericht erinnert unser Verfasser: Jesus hat den Zugang zum Allerheiligsten, das heißt zu Gott, selbst geöffnet. Jeder und jede, die glauben, können ohne Vermittlung durch andere direkt zu Gott kommen. Er ermutigt seine Leser, diese Möglichkeit zu nutzen: „Lasst uns hinzutreten“, schreibt er (V22). Das Zerreißen des Vorhangs ist nicht nur eine Symbolhandlung, sondern Zeichen für eine neue, von Gott durch Jesus Christus geschaffene Wirklichkeit, an der wir teilhaben dürfen. So leben Christen in der Gegenwart Gottes mit wahrhaftigen Herzen in der Fülle des Glaubens und befreit vom bösen Gewissen. So formuliert es unser Text. Diese große Nähe zu Gott macht Karfreitag möglich.
Gott ist immer der Kommende
Und dann spricht unser Text von praktischen Konsequenzen, die sich aus dieser Nähe zu Gott ergeben. Das erste ist eine Ermahnung: „Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken, denn er ist treu, der sie verheißen hat.“ Was hat er verheißen? Dass er wiederkommt. Und darum heißt es im Buch der Offenbarung: „der Herr, der da ist und der da war und der da kommt.“ Und das bekennen wir auch im Glaubensbekenntnis: „von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Damals gab es Zweifler – und die gibt es heute auch. An diesem Bekenntnis dürfen wir auch heute festhalten und sein Kommen erwarten. Auf ihn zu warten, ist nichts Passives und sein Kommen dürfen wir nicht nur für das Ende der Zeit erwarten. Er ist immer im Kommen, wenn er ganz konkret in der Gegenwart an uns handelt, uns heilt, uns tröstet und zu Diensten beruft. Er ist immer der Kommende.
Aufeinander achthaben
Und dann heißt es weiter: „Lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken.“ (V23) Hier geht es um die Qualität christlicher Gemeinschaft. “Aufeinander achthaben“ bedeutet nicht gegenseitige Kontrolle, sondern ein liebevolles Anteilnehmen am Leben des oder der anderen. Dazu gehören Hausbesuche und regelmäßige Zusammenkünfte, wo man einander zuhört und einander erzählt, was man erlebt hat. In der gelebten Gemeinschaft mit Gott, aber auch im Berufsleben und in der Nachbarschaft. Hier übt man sich darin, sich gegenseitig zurechtzuweisen, aber auch zu ermutigen und zu trösten. John Wesley hat nach dem Beginn der Erweckung kleine Gruppen eingerichtet, die sich einmal in der Woche getroffen haben. Er beschreibt sie so: „Eine Gruppe von Personen, die sich vereinigt haben, miteinander zu beten, sich ermahnen zu lassen, über einander in der Liebe zu wachen und dadurch einander in der Gestaltung ihres Seelenheils behilflich zu sein.“ So steht es in den Allgemeinen Regeln. Es wäre sicher gut, sich erneut mit dem ganzen Text der Allgemeinen Regeln vertraut zu machen.
Und dann betont unser Zeuge, dass wir einander anspornen sollen zur Liebe und zu guten Werken. Hinter dieser freundlichen Aufforderung steht die Erfahrung, dass Liebe wachsen kann und an Tiefe gewinnt. Christliches Leben ist kein Stillstand, sondern ein beständiges Wachsen. Und dem Tun des Guten sollte keine Grenze gesetzt werden. Wir können kurz innehalten und uns fragen: Was kann Gott bei mir und meinen Geschwistern im Glauben in Bewegung bringen, wenn wir ihn in unserem Leben wirken lassen? So kann ein Leben voller Überraschungen beginnen. Diese Erwartung an Gott hat Charles Wesley in der 4. Strophe seines Liedes „Liebe komm herab zur Erde“ sehr schön in Worte gebracht. Ich schreibe erst den englischen Text auf und gebe ich es in Deutsch mit meinen Worten wieder. Die deutsche Übersetzung in unserem Gesangbuch erfasst nicht die Botschaft des Englischen. Hier der englische Text:
Finish then thy new creation,
pure and spotless let us be.
Let us see thy great salvation
perfectly restored in thee.
Changed from glory into glory
till in heaven we take our place
till we cast our crowns before thee
lost in wonder, love and praise!
Und auf Deutsch: Vollende nun deine neue Schöpfung, rein und fleckenlos lass uns sein. Lass uns dein hohes Heil sehen, vollkommen erneuert in dir, verwandelt von einer Herrlichkeit zur andern bis wir unsere Kronen zu deinen Füßen ablegen, überwältigt in Staunen, Liebe und Lobpreis.
Jede Übersetzung ist ein Wagnis. Mich berührt in dieser Strophe die Poesie, die hier ganz unbefangen biblische Texte meisterhaft aufnimmt, aber den Leser erkennen lässt, welche Bibelstellen aufgenommen werden. Und das Wichtigste: Gott vollendet das neue Leben in uns und an uns, wir antworten im Lobpreis und Staunen. Solch eine Haltung der Erwartung bringt eine heilvolle Spannung ins Leben. Das Leben mit Gott ist eine spannende Sache.
Karfreitag ist keine Endstation, sondern ein ergreifendes Zeichen für Gottes tiefgründige Liebe, die auch den tiefsten Abgrund menschlicher Schuld umfasst. Auch für den größten Sünder und widerlichsten Übeltäter ist Rettung und Heil da, wenn sie die ausgestreckte Hand Gottes ergreifen. Dafür steht Golgatha: Jesus am Kreuz zwischen zwei Räubern. Wir sind beauftragt, diese Botschaft mit allen Menschen zu teilen.