Hat Schönheit eine Chance?

Glaubensimpuls


Predigt von Matthias Weigold, Pfarrer der Heilandskirche Graz mit Jesaja 55,6-12 

Washington D.C., 12. Januar 2007. 7 Uhr 51, mitten im morgendlichen Berufsverkehr. An einer U-Bahn-Station steht ein Mann mit einer Baseballkappe auf dem Kopf und einer Violine in der Hand. Und spielt. 

Menschen kommen vorbei. In dem Moment, in dem sie vorbeigehen, müssen sie eine Entscheidung treffen: Halte ich an – oder gehe ich weiter? Gebe ich etwas Geld? Nehme ich mir Zeit um zuzuhören? Viel Zeit ist nicht, sich zu entscheiden. 10 Sekunden, vielleicht 15 – dann sind sie an dem Geiger vorbei. Der spielt. Er spielt virtuos, mit Hingabe, die Töne füllen die Halle des U-Bahn-Einganges. Doch es dauert ein paar Minuten, bis überhaupt jemand Notiz von ihm nimmt. Ein Mann wendet beim Gehen den Kopf, aber stehen bleibt er nicht. Stehen bleibt eigentlich kaum wer. Ein paar schauen auf, verlangsamen den Schritt. Und die eine oder der andere wirft eine Münze in den Hut. Einige Kinder möchten stehen bleiben, aber die Eltern ziehen sie weiter. Die Kinder schauen zurück, bis sie den Geiger aus den Augen verlieren. Der spielt, ohne abzusetzen. Nach einer knappen dreiviertel Stunde beendet er sein Konzert – unbemerkt und ohne Applaus. 32 Dollar und 17 Cent sind zusammengekommen, von 27 Menschen in den Hut geworfen. Vorbeigekommen sind insgesamt 1070 Menschen. Sieben davon sind stehen geblieben. 

Der Geiger war Joshua Bell, einer der besten der Welt. Er spielte unter anderem die Chaconne in d-Moll von Johann Sebastian Bach, eines der anspruchsvollsten Stücke, die jemals geschrieben wurden. Die Geige, auf der er spielte, war eine Stradivari, dreieinhalb Millionen Dollar wert. Sein Auftritt in der U-Bahn-Station war ein Experiment. Die Zeitung „Washington Post“ hatte es in Auftrag gegeben. Was die Zeitung interessierte, war die Frage, ob Menschen Schönheit auch wahrnehmen, wenn sie ihnen in einem ganz alltäglichen Umfeld begegnet. Wenn sie nicht damit rechnen, wie morgens auf dem Weg zur Arbeit, in der U-Bahn-Station. 

Hat Schönheit die Kraft, den Moment zu verändern und Menschen aus ihrer Routine herauszuholen? Zwei Tage zuvor hatte Joshua Bell vor einem ausverkauften Haus in Boston das gleiche Konzert gegeben. Die Karten dafür kosteten durchschnittlich 100 Dollar. An dem Morgen in der U-Bahn-Station haben die Menschen die Chance auf ein Gratiskonzert und nehmen es nicht wahr, gehen einfach vorbei an der Schönheit der Musik. Schönheit, so scheint es, hat ihren Ort und ihre Zeit.

Begegnet sie in fremder Umgebung, zu ungewöhnlicher Zeit, verliert sie anscheinend ihre Kraft, Menschen zu berühren und zu bewegen. Das Volk Israel hängt durch. Jedenfalls die Ober- und Mittelschicht. Man hat sie nach Babylon deportiert. Sie werden nicht gequält, es geht ganz gut soweit. Aber die Sehnsucht quält sie. Gott, denken sie, ist fern. Er hatte seinen Ort, den Tempel in Jerusalem. Doch der ist zerstört. Der Tempel war der Wohnort Gottes. Dort konnten sie sich sammeln und Kraft für den Alltag holen. Die Schönheit der Gottesdienste, die sie aus dem Alltag erhoben – wo ist sie geblieben? Und wo ist Gott geblieben? Kann man ihn auch an diesem tristen Ort hören? Ist er überhaupt da? Der Prophet, der dort im Exil auftritt, ist auch ein Virtuose, ein Virtuose der Sprache, sozusagen das Instrument, auf dem Gott seine Melodien spielt, damit die Menschen sein Wort hören. Der Prophet spielt an einem ungewöhnlichen Ort. 

Er wird es schwer gehabt haben, sich Gehör zu verschaffen. Aber es ist ihm gelungen. Menschen sind stehen geblieben und haben ihm zugehört. Eine Folge davon war, dass seine Worte festgehalten wurden und ihre Kraft bis heute nicht verloren haben. Die Menschen damals waren damit beschäftigt, ihren Alltag im fremden Land zu meistern. Sie kämpften mit ihrer Trauer und ihrem Heimweh, und auch mit ihrer Art, ihre Beziehung zu Gott zu leben. Gott ist da, überall, ganz nahe – das war ein revolutionärer Gedanke für sie. Das hat ihren Glauben verändert. Und ihr Leben. Gott ist da, überall, ganz nahe – auch ohne Tempel. Seine Worte wirken wie Regen, der Samen aufgehen lässt, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Gottes Worte verändern unseren Blick und unsere Schritte und bringen uns auf neue Gedanken. Wie Gott das macht? Indem er mitgeht – so wie damals mit den Deportierten nach Babylon. Und ihnen entgegenkommt. Das hat die Menschen im Exil verändert, ihr Leben und ihr Glauben auf neue Bahnen gebracht. Wie Gott ihnen entgegengekommen ist, da sind sie auch ihm entgegengekommen. Nein, entgegengekommen ist eigentlich zu viel gesagt. 

Innegehalten haben die Menschen. Innegehalten und aufgemerkt. Mehr nicht. Nur einen Moment angehalten und gemerkt, was sie nicht für möglich gehalten hätten: dass Gott sich auch in Babylon finden lässt, dass er da ist, überall, ganz nahe. Das hat sie berührt, das hat sie bewegt und ihr Leben verändert – ob sie nun nach Israel zurückgekehrt sind oder, wie der größere Teil, in Babylon blieben. 

Die 7 Menschen, die in der U-Bahn-Station in Washington stehen blieben, wurden hinterher interviewt. 

Einer war ein Manager, der eigentlich kein Ohr für Klassik hat. Aber er spürte, dass das etwas Ungewöhnliches war. Er hatte noch 3 Minuten und die Zeit hat er sich genommen. Eine andere war vom Wachpersonal der U-Bahn. Sonst ärgerte sie sich über Straßenmusiker und rief immer die Polizei. Von Joshua Bell hatte sie nie gehört. Im Nachhinein sagte sie widerwillig: „Er war ziemlich gut, und da habe ich nicht die Polizei gerufen. Zum ersten Mal.“ 

Eine einzige Frau hat Joshua Bell erkannt und blieb 10 Minuten stehen. Sie beobachtete die achtlos vorbeigehenden Leute und fragte sich: In welcher Stadt lebe ich eigentlich? 

Es geht mir nicht darum, Euch für klassische Musik zu begeistern. Ich kann auch nicht mit Sicherheit sagen, ob ich selber stehen geblieben wäre. Wie ich mich kenne, bin ich fast sicher, dass ich weitergegangen wäre. Aber ich möchte die Frage der Washington Post auf uns hier übertragen und fragen: Hat das Wort Gottes überhaupt eine Chance, gehört zu werden, wenn es nicht im Gottesdienst erklingt, sondern an einem ungewöhnlichen Ort, zu einer ungewöhnlichen Zeit? Wie erkenne ich eigentlich, dass Gott sich mitten in meinem Alltag sozusagen in mein Herz spielen will?

Der Prophet beschreibt diese Momente des Innehaltens und der Neuorientierung als Momente der Freude und des Friedens: „Ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.“ Freude, Momente reiner Freude, und Frieden sind Zeichen dafür, wenn ein Mensch zu sich findet, wenn Gott in ihm oder ihr ankommt. Der Prophet gebraucht dafür ein Bild aus der Natur: Gottes Wort wirkt wie erfrischender Regen oder Schnee, der die trockene Erde tränkt und fruchtbar macht und ihren Ertrag bringen lässt, so dass die ganze Schöpfung davon leben kann, die Natur, die Tiere und die Menschen. Durch Gottes Wort, so verstehe ich das Bild vom Regen und Schnee, durch Gottes Wort kommt etwas zu mir, was mich aufmerken und aufatmen lässt, und antworten. Wenn Gott redet, dann kann ich das daran merken, dass alles, was ich bin, meine ganze Person, aufatmen kann, weil ich zeigen kann, was in mir steckt; weil ich mein Leben nicht aus eigener Kraft bestreiten muss.

Aber, so höre ich gleich die Skepsis fragen: Sind das nicht nur schöne Worte? Hohle Phrasen, fade Schmeichelei, mit der die Wirklichkeit schön geredet werden soll? Und unter dem Zweifel meldet sich vielleicht auch Verzweiflung, die Ahnung, dass ich doch nicht aus meiner Haut kann; dass ich allzu oft selber schuld bin, nicht zuletzt daran, dass wir alle miteinander zerstören, wovon wir leben. Der Zweifel und die Verzweiflung haben ihre eigene Logik. Wer sich darin verfängt, findet manchmal keinen Ausweg mehr. „Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.“ Sagt der Prophet und spielt unentwegt sein Lied. Erbarmen und Vergebung. Auch das nur Worte. Und doch schaffen diese Worte einen neuen Raum, weil sie einen Ausweg zeigen, weil sie eine andere Logik dagegen setzen: „so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“ Es gibt nicht nur unsere eingefahrenen Wege und Gedanken, das alltägliche Hin und Her, Auf und Ab. Es gibt auch das andere: Gottes Wege und Gedanken. Und von ihm gibt es anderes zu hören, als wir uns selbst sagen können. Von ihm gibt es Worte des Erbarmens, die wirken. Worte der Vergebung, die neue Wege auftun. Nicht, dass dadurch alle Zweifel und Verzweiflung zum Verstummen gebracht würden. Aber Gott hört nicht auf, uns gut zuzureden. Manchmal ganz unerwartet! Dass wir seinem Wort in unserem Alltag Raum geben, dass Gott sich ins Herz spielen kann, dazu braucht es Übung – wie das Experiment der Washington Post zeigt. 

In unseren Gemeinden versuchen wir das auf verschiedene Weise miteinander zu üben: hier in der Wielandgasse und drüben am Kaiser-Josef-Platz und an vielen anderen Orten. Als Gemeinden sind wir auch dazu da, anderen Menschen solche Gelegenheiten zu bieten. Das bedeutet zum einen, dass wir unsere Veranstaltungen offen und einladend gestalten, damit Menschen sich willkommen fühlen. Zum anderen bedeutet das, Erfahrungen wie sie Joshua Bell gemacht hat, nicht zu scheuen und uns mitten im Alltag unter großteils religiös unmusikalische Menschen zu stellen und uns nicht davon abbringen zu lassen, unser Lied vom Leben zu singen. Wie zum Beispiel immer wieder beim Gebet für Moria, mitten in der Stadt, für all die Frauen, Männer und Kinder, die auf der Flucht vor Krieg, Armut und Hunger unbehaust in Lagern an den Außengrenzen Europas ihr Dasein fristen. Ein Moment zum Stehenbleiben und Innehalten und Aufatmen. Ich habe den Eindruck, Menschen erwarten einiges von uns Christinnen und Christen – vielleicht mehr als uns manchmal bewusst ist: an Mut, ungewöhnliche Wege zu gehen; an Stärke, den Schmerz und die Verzweiflung auszuhalten; an Hilfe, den Frieden zu leben. 

Nur überschwängliche Freude – dafür erscheinen wir wohl zu trocken oder zu harmlos.

Wie dem auch sei – eines können wir uns von dem Propheten gesagt sein lassen: Gut, dass Gott es ist, der es immer wieder regnen lassen wird. Gut, dass wir es nicht selber regnen lassen müssen, sondern nur innehalten und hören und uns bewegen lassen. Gut, dass das – viel öfter als wir denken – genauso einfach oder schwer ist, wie eines Morgens unterwegs stehenzubleiben und Musik zu hören, die uns geschenkt wird, und Gott sagen zu hören:

Jetzt – spiel dein Lied. – Amen.

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