Solo verbo, lebendiges Wort
Glaubensimpuls
Lokalpastor EmK Schweiz
Liebe Gemeinde, der heute gehörte Text aus dem Lukasevangelium scheint so gar nichts mit uns und unserem Leben zu tun zu haben. Ist es doch ein Text der klar verortet ist und der ausschließlich mit Jesus und den Menschen in der Synagoge in Nazaret zu tun hat. Man kann diesen Text lesen oder hören und sich denken: Das ist ja schön für dich, Jesus. Tatsächlich, wenn ich an deine Taufe am Jordan zurückdenke, dann öffnete sich der Himmel und der Heilige Geist kam in sichtbarer Gestalt wie eine Taube auf dich, Jesus. Aber was hat das mit mir zu tun?
Weder habe ich den Heiligen Geist wie eine Taube empfangen, noch habe ich die Macht Gefangene frei zu lassen, noch kann ich Blinde sehend machen oder den Unterdrückten die Freiheit bringen. Es steht mir auch nicht zu, ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen.
Vielleicht war es dieser zögernde, fragende, ungläubige Geist, der auch die Menschen in Nazaret daran gehindert hat, diese Aussage von Jesus in ihrer Tiefe zu begreifen.
Normalerweise nehme ich die Menschen, mit denen Jesus zu Lebzeiten unterwegs war, an dieser Stelle gerne in Schutz und behaupte, es war ja auch wirklich schwer. Es war wirklich schwer, diesen Mann aus Fleisch und Blut mit all den göttlichen Verheißungen gleichzeitig zu denken. Es war wirklich schwer an Jesus zu glauben. Seinen Worten zu vertrauen. Ist das nicht erst mit der Auferstehung möglich gewesen?
Mag sein, wir können es im Grunde nie wissen, weil wir nicht dabei waren. Aber für meine heutige Fragestellung ist das der Hintergrund. Meine Frage ist: Wie kommt man zu lebendigem Glauben?
Wie wird man Beteiligter statt Zuschauer? Was braucht es, damit das Feuer des Glaubens zu brennen beginnt?
Dazu möchte ich heute einen Gedanken aufnehmen, den wir Martin Luther und der Reformation verdanken. Eigentlich muss man als gläubiger Mensch natürlich so sagen: Einen Gedanken, den wir dem Heiligen Geist verdanken und den Martin Luther wahrscheinlich als Erster ausgesprochen und niedergeschrieben hat. Aber inhaltlich ist es die reformatorische Erkenntnis des solo verbo, des mündlichen Wortes.
Es ist interessant, dass die anderen „Sola“-Wörter von Luther weitaus bekannter sind. Wie das „sola fide“, allein aus dem Glauben, das „sola gratia“, allein aus Gnade, das „solus Christus“, allein Christus oder das „sola scriptura“, allein die Schrift, gemeint ist die Bibel. Diese berühmten Wörter werden alle mit Luther in Zusammenhang gebracht – an diese Wörter erinnert sich die Welt. Aber auf all diese berühmten Wörter möchte ich heute nicht eingehen, sondern mich allein dem solo verbo, dem unbekanntesten der „Sola“-Wörter zuwenden. Es geht um das mündliche Wort.
Dieses mündliche Wort ist meiner Ansicht nach die Antwort auf alle oben gestellten Fragen.
Was ist damit gemeint?
Wenn ich Luther richtig verstanden habe, dann ist das mündliche Wort, das zugesprochene Wort. Luther unterscheidet dann noch und redet vom äußerlichen Wort, also dem Wort, das mir von einem Anderen – deswegen äußerlich – zugesprochen wird. Aber meiner Ansicht nach darf man auch das geschriebene Wort als zugesprochenes Wort verstehen.
Das Entscheidende ist, dass es dir oder mir zugesprochen wird.
Es betrifft nicht irgendeinen Menschen. Es betrifft nicht nur die Jüngerinnen und Jünger zur Zeit Jesu. Es betrifft nicht nur Luther, John Wesley, Mutter Teresa oder wie auch immer die berühmten Menschen der Kirche geheißen haben. Es betrifft auch nicht nur die Klugen, Gelehrten, Studierten oder sonst wie Gebildeten. Oder den Nachbarn, der heute mit etwas Abstand neben mir sitzt. Sondern es betrifft dich! Es betrifft mich!
Das mündliche Wort ist das gelesene, gehörte oder zugesagte Wort Gottes, das dich und mich, so wie wir heute, in diesem Augenblick vor Gott stehen – oder ja, jetzt halt sitzen – anspricht. Wir sind gemeint. Gottes Zusagen wurden nicht nur für die Menschen vor uns und neben uns weitergegeben, sondern sie gelten uns. Dir und mir.
Und genau das ist der Punkt, wo wir wieder in unsere Evangeliumsgeschichte einsteigen können: So wie wir das mündliche Wort als etwas ganz persönliches, uns meinendes Wort hören, und verstehen können, genau so erleben wir in der gehörten Geschichte den Menschen Jesus, als den Angesprochenen. Den Verstehenden. Denjenigen, der erkennt, dass er gemeint ist. Dass dieses Wort ihm gilt.
Ja, wir können immer noch sagen, dass diese Beschreibung, die wir bei Jesaja im 61. Kapitel nachlesen können, nur Jesus gilt. Dass nur er gemeint ist. Jesus, so lesen wir es im Neuen Testament, hat tatsächlich blinden Menschen ihr Augenlicht zurückgegeben. Er hat sie von ihrem körperlichen Leiden befreit, so dass sie wieder sehen konnten. Aber hat er den Unterdrückten die Freiheit gebracht?
Ist Jesus nicht gerade an dieser Erwartung der Menschen gescheitert, die in ihm auch einen politischen Befreier sehen wollten? Der sie aus der Macht und der Unterdrückung durch die Römer befreit?
Und wenn wir hier sagen, dass es um eine andere Freiheit ging. Um eine universellere, also viel mehr umfassende Freiheit, eine Befreiung von der Macht der Sünde ging. Dann können wir auch die Blinden umdeuten und sie nicht nur als körperlich Blinde, sondern als Nicht-Sehende, im Sinne von Nicht-Verstehende begreifen.
Das bedeutet, wir können auch in diese große Verheißung einsteigen, die Jesus mit den Worten „heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt“ für sich annimmt.
Es geht um das mündliche Wort, das solo verbo, das damit zum lebendigen, uns ergreifenden, Wort wird.
Denn der Geist des Herrn ruht nicht nur auf Jesus, sondern auch auf dir und auf mir. Wir sind vielleicht nicht vom Herrn gesalbt, dafür aber getauft. Die Verheißungen Gottes gelten nicht nur für Jesus, sondern für dich und für mich.
Ich bin Jahwe – der Gott, der für dich da ist!
Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren worden.
Ja selbstverständlich gilt das dir und mir!
Gott will uns durch Versprechungen und Verheißungen gewinnen. Nicht durch Gebote und Drohungen. Sondern durch Zusagen.
Um zu verstehen, was eine Verheißung oder eine Zusage ist, müssen wir Jesu Wort wieder neu hören: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ Nur Kinder oder Menschen die so offen, unkontrolliert und unbefangen sind wie Kinder, können die Größe eines göttlichen Versprechens begreifen. Vielleicht kann ich das abschließend noch mit zwei Beispielen deutlich machen.
Stellt euch vor ihr seid ein zehnjähriges Mädchen. So ein Mädchen, das gerne reitet und Pferde liebt. Das viermal in der Woche auf dem Reiterhof anzufinden ist. Ein Mädchen, das den Stall ausmistet, die Pferde striegelt und reitet, so viel sie kann. Deren ganzes Kinderzimmer mit Pferdeposter und Pferdepuzzles, Pferdebüchern und Pferdestofftieren vollgestopft ist. Und jetzt stellt euch mal vor was passiert, wenn dieses Mädchen irgendwann auf den Reiterhof kommt, den Papa oder die Mama trifft, beide zum Stall gehen, bei einem besonders schönen Pferd stehen bleiben und dieses Mädchen die Worte hört:
Dieses Pferd gehört jetzt dir!
Diese Explosion, dieser Schrei, dieses Gesicht, das ihr dann seht – das ist eine Verheißung.
Das ist eine Zusage Gottes! So fühlt sich das an.
Oder für die Männer habe ich auch ein schönes Beispiel mitgebracht, das allerdings nur in Österreich funktioniert, aber hier ist es sozusagen kollektive Genugtuung geworden, und das ist Cordoba. Cordoba, für alle Nichtfussballerinnen und Nichtfussballer ist mitnichten nur eine spanische Stadt, sondern es ist auch eine argentinische Stadt. Eine argentinische Stadt, 1978 Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft und Ort des Fußballsiegs von Österreich über Deutschland. Der legendäre Kommentar von Edi Finger dazu:
„I wer narrisch. Krankl schießt ein. Drei zu zwei für Österreich. Wir föin uns um den Hals, der Kollege Riepl, der Diplomingenieur Posch, wir busseln uns ab. Drei zu zwei für Österreich. Durch ein großartiges Tor von unserem Krankl.“
Die Glücksgefühle, die damals zumindest die gesamte männliche Bevölkerung von Österreich erlebt haben – das ist vergleichbar mit einer eine Verheißung.
Wenn sogar der Diplomingenieur Posch abgebusselt wird – dann gibt es kein Halten mehr – dann ist es aus und vorbei.
Mit solchen Beispielen spürt ihr hoffentlich, was für eine irrsinnige Kraft den Verheißungen Gottes inne wohnt. Was eine Zusage auslösen kann.
Gott sagt: Verlass dich auf diese Verheißungen. Probier sie aus. Bau auf sie.
Und du wirst erleben, welche Kraft das mündliche Wort, das solo verbo, in dir bewirken kann.
Auch heute noch bewirken kann und will.
Denn das Geschriebene wird lebendig. Es wird lebendiges Wort.
Amen.