Wachstum braucht Zeit
Glaubensimpuls
Pastor i.R.
Der Evangelist Johannes überliefert uns die sogenannten Abschiedsreden Jesu. Jesus sitzt mit seinen Jüngern beim Passamahl. Gerade hat er seinen Jüngern die Füße gewaschen und nun sitzt er wieder am Tisch und redet zu ihnen. In den Kapiteln 1-13 hat der Evangelist über Jesus erzählt und von seinen Taten und Heilungen berichtet und von seinen Auseinandersetzungen mit den Pharisäern und Schriftgelehrten. Jetzt redet Jesus selbst. Jesus spricht zu seinen Jüngern. Johannes hat es so formuliert, dass auch der Leser und die Leserin heute den Text so hören kann, als spräche Jesus direkt zu ihm oder ihr. Im Grunde gilt das aber für die ganze Heilige Schrift. Wer sie zur Hand nimmt und sie liest, darf damit rechnen, dass Gott zur ihm oder ihr spricht. Darum hat John Wesley das Lesen in der Schrift zu den Gnadenmitteln gezählt. Gnadenmittel sind Wege und Mittel, so hat er sie beschrieben, auf denen die Verheißung liegt, dass Gott uns begegnet und an uns handelt. So lade ich euch ein, mit mir den Text Satz für Satz zu bedenken und zu fragen, was er uns jetzt sagen will.
"Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner."
Hier liegt die Betonung auf dem Wort »wahr«. Zur Zeit Jesu gab es natürlich viele Weinstöcke, so wie heute überall dort, wo der Wein gedeiht. Es geht um den richtigen Weinstock, der Kraft hat, viele Reben zu tragen und ausreichend Saft bereit hat für seine Reben. Er befähigt die Reben, viele und gute Trauben wachsen zu lassen. Auf den wahren Weinstock kann man sich verlassen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und alles Wachsen und Gedeihen und Beschneiden vollzieht sich in der Gegenwart Gottes, der der Weingärtner ist.
"Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede Rebe, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe."
Der beschriebene Vorgang ist ganz klar. Der erfahrene Weingärtner sieht die Reben genau an. Jede Rebe, die keine Frucht bringt, wird entfernt und jede Rebe, die Frucht bringt, wird von allem unnötigen Blattwerk befreit, damit der Saft des Weinstocks vor allem der guten Rebe zugute kommt und sie so mehr Frucht bringt.
Wie sollen wir diese Aussage auf unser Leben beziehen? Eins scheint mir außer Streit zu stehen. Wir sollen mehr Frucht bringen. Das Leben in der Gemeinschaft mit Jesus ist kein Stillstand, sondern eine Bewegung nach vorne. In unserem Leben kann mehr geschehen, als wir im Augenblick wahrnehmen. Ich habe Christen erlebt, die bei Zeugnisgottesdiensten immer wieder von ihrer Bekehrung erzählt haben. Die Gemeinde hat die Geschichte ja schon gekannt und alle wussten, was er sagen würde. Es war langweilig, ihm zuzuhören. Und ich dachte mir als junger Mensch: Hat er in der Zwischenzeit, seit seiner Bekehrung, keine neuen Erfahrungen mit Gott gemacht? John Wesley ist dafür ein gutes Beispiel. In seinem Tagebuch hat er ausführlich von seiner Erfahrung berichtet, als ihm das Herz warm wurde beim Hören eines Textes von Martin Luther und er plötzlich glauben konnte, dass Christus für ihn gestorben und dass seine Sünden vergeben sind. In diesem Augenblick wurde er seines Heils gewiss und große Freude erfüllte sein Herz. In seinem weiteren Leben ist er nie mehr auf diese Erfahrung zurückgekommen, weil immer neue Herausforderungen und Aufgaben ihn in Anspruch genommen haben und er für verschiedene Probleme Lösungen suchen musste.
Es wäre schön, an dieser Stelle miteinander ins Gespräch zu kommen, wo einer dem anderen erzählen könnte, welche Erfahrungen er oder sie gemacht haben. Gott handelt ja in der Regel nicht direkt an uns, aber vielleicht so, dass wir in der Gemeinde gefragt werden, ob wir bereit wären, eine Aufgabe zu übernehmen, etwa im Chor mit zu singen, oder uns in der Arbeit mit Kindern zu beteiligen, oder ob wir im Gemeindevorstand mitarbeiten könnten, oder bereit wären, einmal eine Predigt zu halten oder eine Gesprächsgruppe zu leiten, oder die Kirche und kirchliche Räume zu putzen, oder Besuchsdienste wahrzunehmen. In jeder Gemeinde gibt es viele Möglichkeiten, Dienste zu tun. Wenn wir ja sagen, müssen wir in unserer Lebensführung Platz machen für eine neue Verantwortung. Wenn wir nein sagen, wird vielleicht unser Leben ärmer, weil wir uns selber vom Weinstock und seinem Saft trennen.
"Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt."
Eine Rebe kann, wenn sie vom Weinstock abgetrennt ist, keine Frucht bringen. Das ist klar. Aber es ist wichtig, das auszusprechen. Und Jesus spricht das aus. Und dann betont er sein zentrales Anliegen: Bleibt in mir und ich in euch. Wer in mir bleibt, der bringt viel Frucht, ohne mich könnt ihr nichts tun.
Wie bleibt Jesus in uns? So, dass wir uns von seinem Beispiel bestimmen lassen. Wir können es mit den Worten des Apostel Paulus beschreiben: Gesinnt zu sein wie Jesus gesinnt war und zu wandeln, wie er gewandelt ist. Diese beiden Sätze aus dem Philipperbrief und dem 1. Johannesbrief hat John Wesley in vielen Zusammenhängen immer wieder in seinen Predigten und seinen Schriften einfließen lassen, weil sie so eindeutig und klar sind. Wenn Jesus in uns wohnt, werden wir ihm immer ähnlicher.
Und wie bleiben wir in ihm? Wichtig scheint mir zunächst festzuhalten, dass es um ein Bleiben geht, also nicht um Aktivität und ein Tun. Und hier geht es um ein Bleiben, um ein Bleiben in einer Beziehung. Die biblischen Texte reden vom Bund des Menschen mit Gott. Indem Jesus vom Weinstock und den Reben spricht, macht er uns aufmerksam, dass auch in menschlichen Beziehungen und ebenso in der Beziehung zu ihm Prozesse ablaufen. Wachsen braucht seine Zeit. Beziehungen brauchen Zeit, um sich zu festigen und zu vertiefen. Und im Laufe des Lebens kommt es zu Situationen, wo der eine oder die andere den Bund bricht und so die Beziehung belastet. Wir leben in einer Zeit, in der alles schnell gehen soll. Viele leben völlig atemlos. Aber Wachstum lässt sich nicht digitalisieren. Wachstum lässt sich nicht beschleunigen. Es braucht einfach seine Zeit.
Aus diesem Grund hat Wesley seine methodistischen Geschwister eingeladen, einmal im Jahr einen Gottesdienst zu feiern in dem der Bund mit Gott erneuert wird. In diesem Gottesdienst wird auch unser Text aus Johannes 15 gelesen. In einer Bundesbeziehung geht es um tiefes Vertrauen und eine gegenseitige Hingabe. Im Hingabegebet dieses Gottesdienstes kommt deutlich zum Ausdruck, worum es geht. Dieses Gebet zitiere ich zur Gänze, denn das kann man nicht oft genug sprechen:
Ich gehöre nicht mehr mir, sondern dir.
Stelle mich, wohin du willst.
Geselle mich, zu wem du willst.
Lass mich wirken, lass mich dulden.
Brauche mich für dich, oder stelle mich für dich beiseite.
Erhöhe mich für dich, oder erniedrige mich für dich.
Lass mich erfüllt ein, lass mich leer sein.
Lass mich alles haben, lass mich nichts haben.
In freier Entscheidung und von ganzem Herzen
überlasse ich alles deinem Willen und Wohlgefallen.
Herrlicher und erhabener Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist:
Du bist mein und ich bin dein. So soll es sein.
Bestätige im Himmel den Bund,
den ich jetzt auf Erden erneuert habe. Amen.
In meiner Jugendzeit haben wir gerne ein Lied der Hingabe gesungen:
»Nimm du mich ganz hin, o Gottes Sohn; du bist der Töpfer, ich bin der Ton.
Mach aus mir etwas nach deinem Sinn. Während ich harre, nimm mich ganz hin.«
In dieser Hingabe wird nicht meine Persönlichkeit ausgelöscht, ich bleibe, der ich bin, mit meinen Ecken und Kanten. Aber alles kann sich in der gelebten Gemeinschaft mit Jesus verändern. Und worin besteht die Veränderung? Dass die Konzentration auf mich selbst aufgebrochen wird und ich den anderen sehe; dass ich nicht nur auf das Meine schaue, sondern auch auf das, was dem anderen dient. Und das gilt nicht nur für das Leben in der christlichen Gemeinde, sondern auch für unser Leben in der Welt. Sehe ich die Not meines Nachbarn? Bin ich im Rahmen meiner Möglichkeiten bereit zu helfen? Lass ich die Nachrichten von der schwierigen Situation von Flüchtlingen und Migranten an mein Herz rühren?
Ich habe in den Nachrichten das Wort »Egozentrismus« gehört. Das heißt: zuerst ich und dann alle anderen. Nicht nur unsere Gesellschaft in Österreich ist davon bestimmt, das ist überall zu sehen. Es zeigt sich daran, wie mit Flüchtlingen und Migranten umgegangen wird. Es ist erfreulich und ein Hoffnungszeichen, dass 15 Länder in der EU bereit sind, 40.000 Afghanen aufzunehmen. Österreich ist leider nicht unter diesen 15. Der Kritik von Menschenrechtsorganisationen an dieser Haltung der österreichischen Regierung sollten sich die Kirchen anschließen. Erfreulicherweise haben das einige Gemeinden und kirchliche Gruppen bereits getan. Im Leben der Kirche sollte der Egozentrimus keinen Platz haben.
Frucht bringen? Wie sieht das aus?
Der Apostel Paulus schreibt an die Galater von der Frucht des Geistes und nennt Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit. Das gehört alles zusammen, aber auch die Entfaltung persönlicher Gaben wie Redekunst, Organisationstalent, Befähigung zu führen und anderes mehr. Jesus sagt dann noch: Wo Frucht wächst, wird Gott verherrlicht. Da wo sich Gaben entfalten und große Dinge möglich werden, sollen wir nie vergessen, wem wir es verdanken: Gottes Gabe. Johann Sebastian Bach, der hochbegabte Musiker, war ein frommer Mensch und wusste, dass alle seine Musik nicht einfach sein Werk war, sondern Gabe und Geschenk von Gott sind. Darum hat er über alle seine Werke das Motto geschrieben „Soli deo gloria“. Alles zur Ehre Gottes!
Weinstock und Reben. Was im vertraulichen Gespräch beginnt, soll aller Welt zu Gute kommen, nicht nur dem vertrauten kleinen Kreis an Freunden und Bekannten.
Das Heil und Leben, das Jesus bringt, gilt der ganzen Welt. Lasst eure Güte allen Menschen kund werden, schreibt Paulus. Das ist die Dynamik christlichen Lebens. Dazu ruft uns Jesus und befähigt uns, so wie der Weinstock die Reben, zeugnishaft und frohgemut in dieser Welt zu leben.