Theopoesie am Strand des Lebens
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Unmittelbar nach der Abschiedsvorlesung mit dem Titel „Von Gott reden – aber wie? Einsichten aus dem Alten Testament“ meinte einer der Zuhörenden: „Ich bereue, dass ich nicht schon früher die Vorlesungen von Jörg Barthel besucht habe.“ Diese Worte sind ein mattes Echo der Strahlkraft, die von dem nun ab Oktober emeritierten Professor ausgeht.
Jörg Barthel hatte seit 1997 den Lehrstuhl für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen inne. Er vertrat das Fach in seiner ganzen Breite: Neben Einführungs- und Theologievorlesungen hielt er zahlreiche Exegesen und Seminare, dazu kamen Veranstaltungen zur Biblischen Theologie und Hermeneutik. Barthel war und ist für seinen ausgesprochen weiten Interessen- und Wissenshorizont bekannt, so fügte er nicht selten einen kurzen Exkurs ein, in dem er Heidegger in fünf Minuten zusammenfasste oder die neue Paulusexegese mit wenigen Worten auf den Punkt brachte. Darüber hinaus verband der Alttestamentler jedes Thema mit aktuellen Fragestellungen und der Wirklichkeit von Kirche und Gesellschaft, so dass seine Lehrveranstaltungen nicht nur informativ, sondern auch für die Praxis hochrelevant waren. Jörg Barthel hatte für jede Frage ein offenes Ohr und für jeden eine Tasse Kaffee Zeit. Seine Menschenfreundlichkeit und sein Humor ließen ihn stets nahbar erscheinen.
In seiner Abschiedsvorlesung legte Barthel eine kurze Theologie des Alten Testaments vor, indem er im Anschluss an Paul Ricoeur fünf Redeweisen der hebräischen Bibel unterschied und jeweils skizzierte: die Erzählung als identitätsstiftende Rede über das Handeln Gottes in der Geschichte, die Tora als Gottes Wegweisung für das Leben, die Prophetie als pathetische Anteilnahme am Herzschlag Gottes, die weisheitliche Reflexion der immanenten Transzendenz Gottes und schließlich die Psalmen als direkte Rede zu und nicht mehr nur über Gott. Zum Abschluss kam der Dichter Rainer Maria Rilke zu Wort: „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus.“ Denn alle Rede von Gott, so Barthel, ist immer vom Schweigen umgeben, unser Wissen von der Wolke des Nichtwissens. In seinen Worten: „Von Gott zu reden gleicht einem Gang am Strand des Meeres: Unsere Worte hinterlassen flüchtige Spuren im Sand, aber sie können das Meer in seiner unendlichen Weite nicht erfassen. Sie können bestenfalls darauf hinführen und hinweisen. Sie werden mehr Theopoesie als Theologie sein.“
Wenige Stunden vor der Abschiedsvorlesung saß Jörg Barthel mit einigen Studierenden im Garten zur letzten Seminareinheit. Als er gefragt wurde, was er ihnen denn mit auf den Weg geben wolle, nannte er drei Dinge: Erstens die Liebe zu den biblischen Texten, zweitens den spirituellen Gehalt dieser Text und drittens die Kunst, seinen eigenen Standpunkt selbstbewusst zu vertreten und sich gleichzeitig in Offenheit auf Neues einzulassen. Während er dieses Vermächtnis hinterließ, spielten zwei kleine Jungs im Garten Fußball. Immer wieder rief Jörg Barthel ihre Namen und scherzte mit Ihnen. Diese Szene beschreibt, wer Jörg Barthel ist: Ein Gelehrter, der den geistigen Mount Everest bestiegen hat und gleichzeitig im Tal bei den Menschen wohnt und verwurzelt ist.
Martin Thoms, Absolvent Theologie THR / Christoph Schluep